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Ganz nah bei »Gunda«
Im Dokumentarfilm von Viktor Kossakovsky steht das Leben der titelgebenden Sau im Mittelpunkt
Ein Schwein liegt im Eingang zum Stall und scheint zu träumen. Eine berührende Szene in ästhetischem Schwarz-Weiß. Zeit vergeht. Leise grunzt das Tier im Schlaf. Vögel zwitschern im Off. Die Kamera bleibt statisch: Winzig kleine Ferkel stolpern über den massiven mütterlichen Körper hinaus ins Freie. Das Grunzen der Sau, die ihre Augen immer noch geschlossen hält, wird lauter, vermischt sich mit dem Fiepen ihres Nachwuchses. Ein Schnitt ins Innere des Stalles offenbart: Gunda hat soeben viele putzmuntere Ferkel geboren, die sich energisch um ihre Zitzen drängen.
»Show don’t tell« lautet die goldene Regel, will man packende Geschichten erzählen. Der russische Regisseur Victor Kossakovsky hält sich in seinem Dokumentarfilm »Gunda« strikt daran. Weder Voiceover, Untertitel noch Musik verwässern den Film über die titelgebende, prächtige Sau - und ein paar beeindruckenden Nebendarstellern in Gestalt von Hühnern und Rindern. Infolgedessen ist »Gunda« keine Bekehrungsschmonzette zum Veganismus geworden, sondern eine ergreifende, meditative Studie über das Bewusstsein und die Gefühle jener Tiere, die wir als Nutztiere bezeichnen.
Kossakovsky, der seit 2002 in Berlin und vegan lebt, ist in der Sowjetunion aufgewachsen. In seiner frühsten Kindheit schloss er Freundschaft mit einem Ferkel namens Wasja, einige Zeit später fand er seinen Weggefährten als Schnitzel auf seinem Teller wieder und wurde nach eigener Aussage so »wahrscheinlich das erste vegetarisch lebende Kind der Sowjetunion«. Seitdem schwelte in ihm der Wunsch, einen Film über diese fühlenden und dennoch gänzlich rechtlosen Lebewesen zu machen - ohne sie zu vermenschlichen. Es dauerte fast drei Jahrzehnte bis eine norwegische Produzentin es wagte, seinen Film, der das heimliche Highlight der Berlinale 2020 war, zu produzieren. Später stieg noch Schauspieler Joaquin Phoenix, der sich schon lange für den veganen Lebensstil einsetzt, als ausführender Produzent in das Projekt ein.
Wie der Zufall es wollte, traf Kossakovsky seine charaktervolle Hauptdarstellerin schon am ersten Tag seiner Recherche in einem norwegischen Schweinestall. Verzückt teilte er seiner Produzentin mit, dass »wir unsere Meryl Streep gefunden haben«.
Aus der tierischen Perspektive - die grandiose Kamera von Egil Håskjold Larsen und Kossakovsky bleibt meist ganz hautnah an ihren Protagonisten - verfolgt die Zuschauer*in das Aufwachsen von Gundas Kinderschar. Die Kleinen können sich zunächst glücklich schätzen, da sie in einer artgerechten Umgebung aufwachsen dürfen.
Die zufriedene Grundstimmung der Tiere überträgt sich schon bald auf die Zuschauer*innen. In diesem meditativen Zustand trifft eine Sequenz mit arg zerrupften Käfighühnern, die auf einem Gnadenhof ganz allmählich begreifen, dass sie freigelassen werden, mitten ins Herz.
Immer wieder nimmt die einfühlsame Kamera die Läufe der Hühner ins Visier - unendlich vorsichtig ertasten sie das Gras, als könnten sie ihr Glück kaum fassen. Blätter rauschen und ein zärtlicher Windstoß fährt durch ihr malträtiertes Gefieder. Auch ein Huhn, dessen fehlendes Bein die todtraurige Geschichte seiner bisherigen Lebensbedingungen erzählt, staunt mit offenem Schnabel über die Schönheit dieses Planeten. Der unscharfe Hintergrund hebt das versehrte Huhn meisterhaft hervor, krönt es zum Individuum. Zuschauer*innen mit ausreichend Spiegelneuronen werden sich womöglich dabei erwischen, wie auch ihnen der Mund aufklappt.
Gundas Kinder sind inzwischen etwas größer geworden. Gemeinsam mit ihr erkunden sie den Großbauernhof, zu dem ein malerischer Wald gehört. Ein hinkendes Ferkel, das nach der Geburt versehentlich einen Tritt von seiner Mutter bekommen hat, bekommt etwas mehr Aufmerksamkeit. Vermenschlicht wird Gunda jedoch nie. Tatsächlich ist im ganzen Film kein einziger Mensch zu sehen, so dass sich unser Bewusstsein völlig auf die Ebene der Tiere einlassen kann. Lediglich Maschinen und deren Geräusche zeugen von der Anwesenheit der angeblichen Krone der Schöpfung.
Der nächste Zeitsprung wird überbrückt von Rindern, die in Zeitlupe freudig erregt auf eine Weide galoppieren. Dann sieht man Kühe auf einem Gnadenhof, auch sie hebt die Unschärfe des Hintergrunds hervor. Sie schauen zwar für unsere Begriffe ausdrucksloser in die Kamera als Filmstar Gunda, aber auch hier nehmen wir uns einmal die Zeit, ihr Bewusstsein zu erspüren. Ihre stoische Gelassenheit hat etwas extrem Würdevolles. Dann setzt Regen ein und die Kamera schwenkt wieder zu Gunda und ihren Kindern, die sich aus der Sicherheit des Stalles heraus ein paar Regentropfen schmecken lassen.
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Doch die Familienidylle erfährt ein jähes Ende. Ein riesiges landwirtschaftliches Fahrzeug und eine Transportkiste erscheinen im Bild - den Rest können wir uns denken. Ganz nah bleiben wir bei Gunda. Völlig verstört sucht die Mutter nach ihren Jungen, lauscht, grunzt, versucht zu verstehen. Dieser Film ist nicht weniger als ein kleines Wunder und verdient Respekt. Genau wie das Leben.
»Gunda«, Ungarn 2020, R: Viktor Kossakovsky, 93 min.
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