Das goldene Zeitalter

Einst flüchteten sie gemeinsam vor der Wehrmacht, dann lebten sie in zwei verschiedenen deutschen Staaten: Der Dichter und Dramatiker Peter Hacks schreibt Briefe an seinen Jugendfreund Hansgeorg Michaelis

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 8 Min.

Dass Peter Hacks nicht nur großartige Essays, Gedichte und Theaterstücke schreiben konnte, sondern auch Briefe, sollte allgemein bekannt sein. Und falls nicht, müsste man das ändern. Für den Einstieg wärmstens zu empfehlen wäre da der von Rainer Kirsch im Eulenspiegel-Verlag herausgegebene Band »Verehrter Kollege« aus dem Jahr 2006 mit Mitteilungen an die Genossen von der schreibenden Zunft.

Wer dann nicht genug hat, kommt an weiteren Bänden aus selbigem Verlagshaus nicht vorbei. Noch für dieses Jahr ist dort der fast ein halbes Jahrhundert und über 1000 Seiten umfassende Briefwechsel mit dem kürzlich verstorbenen André Müller sen. angekündigt, von dem bisher von den Beteiligten - um die Mitwelt an mancher politischer Deutung welthistorischer Ereignisse teilhaben zu lassen - nur die Jahre 1989 und 1990 veröffentlicht wurden.

Nun liegt mit »Woher kommt die viele Dummheit auf die Welt?« ein weiterer Band mit Briefen vor, herausgegeben von dem Literaturwissenschaftler Gunther Nickel und mit über 100 Seiten Kommentar und einem ausführlichen Personenverzeichnis vorzüglich ediert. In diesem Fall ist Hacks’ Briefpartner Hansgeorg Michaelis, die Korrespondenz reicht von 1944 bis 1998. Beide lernten sich in Breslau kennen, sie besuchten von 1943 bis 1945 dort gemeinsam das Gymnasium. Die Schulklasse - eine sogenannte Sammelklasse, die mehrere Jahrgänge umfasst, weil ein Teil der Jugendlichen inzwischen als Flakhelfer eingesetzt wird - habe sich nach Michaelis damals in Nazis und Antinazis gespalten, und der immerhin fünf Jahre jüngere Hacks sei der Anführer der Antinazis gewesen. Überraschend ist das nicht. Hacks’ Vater ist ebenso wie eine Großcousine Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei, Tante und Onkel sind in der Roten Hilfe aktiv. Die Clique der Antinazis kleidet sich lockerer, die Haare lässt man etwas länger wachsen. Man hört Jazz, Michaelis besitzt einen Plattenspieler, man greift auch selbst zu Instrumenten, veranstaltet Partys in Privatwohnungen. Gelesen werden Heinrich Heine, Oscar Wilde und Thomas Mann.

Wirren des Kriegsendes

Nach einem Notabitur flüchten Hacks, Michaelis und andere aus Breslau, sie wollen dem Zugriff der Wehrmacht kurz vor Kriegsende entkommen. Doch die Jugendlichen werden von der Waffen-SS aufgegriffen, von der Gestapo verhört und zur Wehrmacht eingezogen. Hacks kommt zum Reichsarbeitsdienst, später kurzzeitig in Kriegsgefangenschaft. Im Winter 1945 trifft er in der Nähe von München wieder auf seine Familie. Nachdem er ein ordentliches Abitur abgelegt hat, will Hacks an die Universität nach München. Nach einem Semester Zoologie nimmt er ein Studium der Literatur- und Theaterwissenschaft sowie Philosophie und Soziologie in München auf.

Im gleichen Jahr, 1946, gelingt es Hacks, die Adresse von Michaelis ausfindig zu machen, den es zwischenzeitlich ins Allgäu verschlagen hatte; sie nehmen wieder Kontakt auf. Hacks schreibt Nachrichten aus seinem Studentenleben, manchmal mit possierlichen Zeichnungen verziert, der Kontakt zum anderen Geschlecht, den man - bewusst holprig französierend - »cherchezen« muss, spielt eine nicht unwichtige Rolle. Hacks wird, so teilt er in den Briefen mit, nach einiger, nicht immer nur erfreulicher, Cherchezerei eine finden, die für ihn ein Lebensmensch wird: Anna Elisabeth Wiede. Doch bis dahin gibt es noch einige andere Betten zu wärmen. Die Suche nach dem guten, dem wilden Leben - er hat es sich aus Breslauer Zeiten erhalten.

Um Politik geht es eher am Rande, vermutlich hielt Hacks sein Gegenüber nicht für den besten Ansprechpartner in solchen Dingen. Im Oktober 1946 weist Hacks Michaelis bezüglich einer Äußerung zu den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen zurecht. Der ausschlaggebende Brief von Michaelis ist jedoch wie viele weitere aus dieser Zeit nicht erhalten; erst in späteren Jahren tritt Michaelis als Briefpartner überhaupt auf, davor liest man nur Hacks. Das ist zwar etwas einseitig, aber nicht ermüdend. Und doch: Gewusst hätte man gerne, worauf Hacks in diesem Falle antwortet.

Für patriotische Töne ist er wenig empfänglich. Ein richtiger »Deutschenfresser« sei er damals gewesen, schreibt er in anderem Zusammenhang einmal. Michaelis jedenfalls lässt er wissen: »Natürlich schätze ich die englischen Militaristen fast so wenig wie die deutschen, aber da wir ohne selbst den Krieg wahrhaftig noch gewonnen hätten, wäre es undankbar, sie zu baumeln.« Die Niederlage Hitlerdeutschlands ist die historische Tatsache, die weder Relativismus noch Gleichsetzerei verträgt. Und Hacks kann herzlich, aber eben auch harsch.

Ein anderes Mal lässt er Michaelis wissen, politische Fragen brieflich zu diskutieren, ergebe nur dann Sinn, wenn man simple und grundlegende Bücher gelesen habe. Fürs Erste empfiehlt er Engels und Lenin zur Lektüre. In marxistischer Theorie ist Hacks inzwischen bewandert.

Das Leben der Studenten

Im Vordergrund stehen weiterhin Erfahrungen aus dem Studentenleben. Stolz berichtet Hacks Anfang des Jahres 1949 aus dem Seminar bei dem legendären Münchner Theaterwissenschaftler Artur Kutscher. Dort hatte der junge Student Hacks ein Referat gehalten, das der ehrwürdige Professor - wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft nach 1945 kurzzeitig des Amts enthoben, dann aber wieder eingesetzt - mit den Worten geißelte, so eine unmögliche Arbeit sei ihm erst einmal vorgekommen, nämlich als Bertolt Brecht an selber Stelle über Hanns Johst referiert habe.

Brecht hatte im Jahre 1918, ebenfalls als junger Student, Johsts expressionistischen Roman »Der Anfang« wider alle akademischen Gepflogenheiten gründlichst auseinandergenommen. Den Berichten nach soll Kutscher Brecht nicht nur aus dem Hörsaal geworfen, sondern ihn auch als Flagellanten und Proleten beschimpft haben. Brecht allerdings hatte einen Punkt: Er warnte schon zu diesem Zeitpunkt, Johst sei ein Völkischer. Er sollte recht behalten. Johst schrieb mit »Schlageter« ein Drama für Hitler, später wurde er Präsident der Reichsschrifttumskammer. Als Hacks in München studierte, verfasste Johst noch unter Pseudonym Gedichte für die Edeka-Zeitschrift »Die kluge Hausfrau«. Den Ausbruch von Kutscher kommentierte Hacks mit den Worten: »Wenn ich nicht schon bis zum Platzen eingebildet gewesen wäre, wäre ich es jetzt.«

Gelegentlich klagt Hacks, dass er gar nicht mehr zum Briefeschreiben komme, das liege »an einem ungewöhnlichen Maße an Arbeit; nämlich spiele ich tatsächlich Bleicher-Student-Nächte-durcharbeiten-Romantik, tue nichts anderes als schreiben, oder versuche es doch, und das Resultat ist ein großer Stapel unverständlichen Schwulstes und eine Menge guter Witze, die ich unterlassen muss, hineinzuschreiben.« Welcher Art diese sein könnten, deutet Hacks an anderer Stelle an: »Alle guten Dinge sind sex. (Witz ist patentiert.)« Hacks ist nicht nur in der Münchner Kabarett- und Literaturszene unterwegs, wo er erste Erfolge feiert, sondern arbeitet auch an ersten größeren Dramen.

Umzug in die DDR

Zu Beginn der 50er Jahre nehmen Bemerkungen zu Politik - FDP heiße nichts anderes als »Feind des Proletariats« - und Marxismus zu, der Jugendjargon aus Breslauer Tagen tritt zurück. 1953 lässt Hacks seinen Briefpartner wissen, dass der Tod Stalins für ihn zu den »betrüblichsten Nachrichten« seit Langem gehört. Und auch das Interesse an Brecht - mit dem ihn schon Kutscher in Verbindung gebracht hatte - nimmt zu. Aufmerksam verfolgt Hacks, was der kommunistische Theatermacher in Ostberlin treibt. Aus der geistigen sollte bald auch räumliche Nähe werden.

In welchem deutschen Staatswesen er künftig wirken möchte, fragt sich Hacks. Er entscheidet sich 1955 für das sozialistische und zieht mit Anna Elisabeth Wiede in die DDR. Brecht, den er diesbezüglich noch um Rat gefragt hatte, stirbt im Sommer 1956. Kurz darauf schreibt Hacks an Michaelis, mitten in der Vorbereitung für seine »Columbus«-Premiere in Ostberlin: »Mir geht es sehr gut, weil ich, seit Brecht tot ist, der größte deutsche Dichter bin.« So schreibt einer, der von seinem Talent überzeugt ist. Der aber zugleich auch überzeugt ist, dass er in einer gesellschaftlichen Situation leben darf, in der es sich entfalten kann.

»Wir sind im Begriff, viele erstklassige Dramatiker hervorzubringen«, schreibt er wenige Monate später. »Einer heißt Heiner Müller und hat ein beinahe geniales Aktivistenstück geschrieben.« Den Kapitalismus hält er für überholt, wenn auch noch nicht besiegt - »eure Wirtschaft ist von allen Leichen die lebendigste«, lässt er Michaelis wissen, der inzwischen in der Konsum- und Marktforschung tätig ist.

Dem Sozialismus hingegen traut Hacks bei allen Geburtswehen eine große Zukunft zu, mit Blick auf West und Ost schreibt er: »Es ist, von hier aus, schwer zu begreifen, warum so wenige Leute einsehen, dass das goldene Zeitalter vor der Tür steht: jenes Zeitalter, wo sozialistisch ein anderes Wort für lustig ist und die Hurenhäuser genossenschaftlich verwaltet werden.«

Mit dem Umzug in die DDR werden die Briefe an Michaelis seltener, der Kontakt bricht Anfang der 70er Jahre ab, wird aber ein paar Jahre später wieder aufgenommen - aus dieser Zeit sind auch die Briefe von Michaelis überliefert. Damit kommt auch ein Blick vom Westen auf den Osten hinzu. So bemängelt Michaelis im November 1989, bereits nach der Maueröffnung, dass ihm »die selbstbewusste Darstellung aller Dinge, die in der DDR zweifelsfrei besser sind als hier«, fehle. »Weshalb sagt es die SED nicht, sie wird doch dauernd gefragt.« Hacks’ Antwort ist denkbar lakonisch: »Lieber Micha, schlimmer als der Weltschmerz sind der Katarrh und die Influenza, und ich habe die beide. Ich mag also nicht schreiben. Die Lage ist, wie Du sie siehst.« Der letzte Brief von Michaelis an Hacks stammt aus dem Jahr 1998, es ist ein Glückwunsch zum 70. Geburtstag des Dichters, der noch einmal Erinnerungen an die Jugendtage wachruft. »Als wir 1945 bei der Gestapo in Hirschberg saßen, hätten wir die Aussicht, mal so alt zu werden, wie wir jetzt sind, wohl eher skeptisch beurteilt.« Was Hacks dazu dachte, ist nicht überliefert. Nostalgie jedenfalls war seine Sache nicht, er lebte mit Blick auf die Zukunft, die für ihn eine sozialistische war.

Peter Hacks: Woher kommt die viele Dummheit auf die Welt? Briefe an Hansgeorg Michaelis 1944-1998. Hrsg. v. Gunther Nickel. Eulenspiegel-Verlag, 608 S., geb., 40 €.

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