Die Lotsin springt von Bord

Klaus Stuttmann über die Eiserne Kanzlerschaft von Angela Merkel, Wahlkampffieber und die Kunst des Karikierens

Sie haben 30 Jahre lang Angela Merkel zeichnend begleitet. Ist man als Karikaturist einer Frau gegenüber, zumal einer wohlerzogenen Pfarrerstochter und ostdeutschen Politikerin, die es bis ganz nach oben an die Schalthebel der Macht geschafft hat, gnädiger eingestellt? Ich glaube jedenfalls in Ihren, zumindest jüngeren Karikaturen der Kanzlerin mitunter einen Hauch von Sympathie zu spüren. Ihre Merkelin wirkt knuffelig.

Knuffelig? Ja, das kann sein. Manche jedoch meinen: »Wie kannst du die Kanzlerin nur so hässlich zeichnen?« Andere wiederum finden sie zu niedlich porträtiert. Mein Merkel-Bild hat sich tatsächlich im Laufe der Zeit etwas verändert.

Klaus Stuttmann
1949 in Frankfurt am Main geboren und in Stuttgart aufgewachsen, gehört zu den bekanntesten deutschen Karikaturisten und Cartoonisten. Die Arbeiten des mehrfach preisgekrönten Künstlers, studierter Kunsthistoriker, erscheinen in diversen Zeitungen und Zeitschriften. Dieser Tage kam von ihm »Mein Merkel-Bilderbuch« heraus (Schaltzeit-Verlag, 200 S., geb., 24,90 €). Mit dem in Berlin-Kreuzberg lebenden »KS« sprach Karlen Vesper. 

Am Anfang, vor ihrem großen Karrieredurchstart in der CDU, haben Sie Frau Merkel etwas unbeholfen, stocksteif und zersaust gezeichnet.

Das stimmt. Und ich gestehe, dass ich in letzter Zeit Sympathien entwickelte. Dies hing vor allem mit ihrer Haltung in der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 zusammen. Das von vielen diskreditierte, bespöttelte oder auch hasserfüllt umgekehrte Wort »Wir schaffen das!« zeugte von menschlichem Anstand. Da kam wohl auch ihre christliche Prägung zum Ausdruck, die man bei anderen Christen oder Christdemokraten vermisst. Sie hat das menschliche Leid gesehen und Menschlichkeit in diesem Augenblick bewiesen. Auch ihre Haltung hinsichtlich Atomkraft, ihr Eintreten für den Ausstieg nach der Katastrophe von Fukushima gegen parteiinternen Widerstand, hat ihr bei mir einige Sympathiepunkte eingebracht. Eine gewisse Empathie will und kann ich nicht leugnen. Aber sie ist sie eine Interessenvertreterin des großen Kapitals gewesen, nicht der »kleinen Leute«.

Biografen, die sich über einen längeren Zeitraum mit ihren Protagonisten befassen, neigen dazu, diese letztlich nur noch positiv wahrzunehmen respektive reinzuwaschen.

Ich bemühe mich stets um kritische Distanz. Das ist die Aufgabe von Karikaturisten. Aber als politisch denkender Mensch habe ich natürlich meine Meinung. Auch zu den jeweiligen Entscheidungen der Kanzlerin. Ich fand es zum Beispiel unmöglich, wie sie in der Griechenland-Krise agierte: knallhart, unbarmherzig und unfair gegenüber einem von der Finanzkrise besonders hart betroffenem Volk, das dann von deutschen und europäischen Banken noch zusätzlich geschröpft, ausgequetscht und über den Tisch gezogen werden sollte.

Können Sie sich erklären, wie aus einer FDJ-Sekretärin eine Willensvollstreckerin der großen Banken und Konzerne werden konnte?

Nein, kann ich nicht. Das sollen die Historiker und Biografen erkunden.

Sie sind ein Zoon politikon ...

Natürlich, für einen tagespolitischen Karikaturisten eine unabdingbare Voraussetzung. Ich zeichne jeden Tag, versuche, rasch auf politische Ereignisse zu reagieren. Vor allem auf Schlagzeilen, die Sie und Ihre Kollegen produzieren - weil diese sich in die Köpfe der Leser einbrennen.

Als tagespolitischer Karikaturist kann man nicht einfach sagen: »Jetzt greif ich mal ein Thema auf, das nicht so aktuell ist, das ich aber spannend finde.« Wenn ich mich einem momentan abseitigen, aber meiner Ansicht nach durchaus für die Gesellschaft wichtigen Problem zuwende, wird das meistens von der breiteren Öffentlichkeit nicht verstanden.

Werden Ihnen aus den Zeitungsredaktionen, für die Sie arbeiten, konkrete Vorgaben gemacht?

Ganz selten. Normalerweise, bis zu 95 Prozent, treffe ich selber die Auswahl. Und ich freue mich, wenn meine Zeichnung angenommen wird, bin aber auch nicht zu Tode betrübt, wenn dies nicht geschieht.

Man kann diese ja dann immer noch in einem Buch oder in einer Ausstellung bündeln. Wie lange brauchen Sie für eine Karikatur?

Das kann ich nicht sagen, das ist nicht mit einer Stoppuhr zu messen. Denn zur Arbeit gehört eben auch die Information, die man aus Zeitungen, dem Internet oder Büchern entnimmt. Und dann die Überlegung, was macht man daraus - was ist des »Pudels Kern«? Es kommt auch immer darauf an, welchen Zugriff man findet. Und das geht manchmal ganz schnell, manchmal aber brütet man auch eine Stunde oder mehr darüber.

Karikaturen zu erschaffen, ist harte Arbeit.

Ja, eine geist- und kräftezehrende.

Wie viel zerknülltes Papier liegt am Ende eines Arbeitstages auf dem Boden neben ihrem Schreibtisch?

Überhaupt keins. Weil ich nur auf dem Tablet zeichne.

Mit Versatzstücken aus Apps?

Nein. Die gibt es nicht für eine qualitativ anspruchsvolle Karikatur. Und man würde dann auch seine eigene Handschrift verspielen.

Sie zitieren aber durchaus gern. Herrlich finde ich Ihre Merkel-Karikatur à la Leonardo, dessen geometrisch ausgemessenem Ideal vom Menschen. Merkels ausgebreiteten Armen und Beinen haben Sie Krückstöcke zugesellt.

Diese Karikatur entstand nach ihrem Skiunfall. Und im Gegensatz zu Leonados Idealbild, Ideal der Renaissance, interessiere ich mich mehr für den unvollendeten, unvollkommenen oder nicht »idealen« Menschen. Aber ja, Sie haben recht, ich zitiere gern historische Beispiele.

Für deren Erkennen ein Standard an Allgemeinbildung nötig ist. Zum Beispiel Ihre Merkel-Karikatur, die sich an eine zum Sturz des »Eisernen Kanzlers« Otto von Bismarck 1890 aus der Feder des Briten John Tenniel bezieht: »Der Lotse geht von Bord«. Ihre Kanzlerin trabt aber nicht träge und enttäuscht die Schiffsleiter runter, sondern stürzt sich mit einem Hechtsprung, zufrieden lächelnd in die See.

Ich weiß nicht, welchen Eindruck Sie haben - ich habe den Einduck, dass sie mit einem Lächeln abtritt. Sie hat einen viel besseren Abgang gefunden als alle ihre Vorgänger. Wenn wir allein an Gerhard Schröder denken, der sich mit dem Ansetzen von Neuwahlen total verspekuliert hat, dann noch verzweifelt versuchte, die Wahlergebnisse umzuinterpretieren, die Union auseinanderdividieren wollte. Oder Helmut Kohl, der vom Mantel der Geschichte umwehte »Kanzler der Einheit«, der schmählich im Sumpf irregulärer Parteispenden untergegangen ist. Auch der erste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, wollte von der Macht nicht lassen, musste von den eigenen Parteikollegen regelrecht gedrängt werden, abzutreten. Helmut Schmidt wiederum wurde durch den Verrat, den Seitenwechsel seines kleineren Koalitionspartners, die FDP, weggeputscht.

Alle sind unfreiwillig abgetreten und grandios gescheitert. Einzig der Rücktritt von Willy Brandt scheint mir sauber und ehrlich erfolgt zu sein. Trotz eines »schmutzigen« Anlasses: der Guillaume-Affäre, eines Top-Spions des DDR-Auslandsgeheimdienstes HVA. Und vielleicht auch zusätzlich ob Intrigen in der eigenen Partei, Missgunst unter Genossen.

Ja. Und bei Frau Merkel habe ich eben den Eindruck, dass sie ihren Abgang gut hingekriegt hat. Ich vermute, dass sie jetzt erst einmal zufrieden in ihr Privatleben abtaucht.

So schnell vielleicht aber auch nicht, wie manche bereit orakeln, falls über die Bildung der Regierung ebenso zäh verhandelt wird wie vor vier Jahren.

Das kann natürlich passieren.

Teilen Sie die Meinung mancher Parteienforscher oder Journalisten, dass Merkel die CDU sozialdemokratisiert hat?

In einer gewissen Weise schon. Sie hat die Union von den extrem konservativen Werten, auf die diese immer so stolz war, befreit. Sie hat einige überkommene, von der CDU und der CSU hochgehaltene Werte und Normen einkassiert. Dazu gehört auch das Frauenbild. Sie setzte sich für die Unterstützung berufstätiger Mütter ein, für Kindergärten und die Einführung der Frauenquote, wenn auch nur in Aufsichtsräten. Insofern hat sie die Union modernisiert, aber nicht sozialdemokratisiert. Gleichwohl ist sie den programmatischen Zielen der Sozialdemokratie näher gekommen oder hat ihnen mehr entsprochen als der Sozialdemokrat Schröder, der Hartz IV eingeführt hat.

War es früher einfacher als heute, Politiker zu zeichnen? Ich denke an die klassische Kohl-Birne und die Jumbo-Ohren von Hans-Dietrich Genscher.

Nein, einfacher nicht. Das erscheint im Nachhinein nur so. Aber auch die Kohl-Birne war nicht von Anfang an da, hat sich erst entwickelt. Das Gleiche trifft auf die Ohren des deutschen Doyens in der Außenpolitik zu. Es dauerte auch eine gewisse Zeit, bis man die berühmte Merkel-Raute entdeckte. Wenn ich mich recht erinnere, ist diese erst 2005 aufgefallen. Und sie selber hat diese dann als ein Markenzeichen erkannt und zelebriert.

Und das Drei-Knopf-Kostüm. Ich fand es peinlich, dass Nachrichtensprecherinnen, Moderatorinnen und sogar Wetterfröschinnen - um genderkorrekt zu sprechen - ebenfalls ein solches trugen, auch wenn das kurze Jäckchen bei vielen albern aussah. Anbiederei?

Vielleicht fanden sie es auch schick. Inzwischen hat die Kanzlerin übrigens ihre Knopfauswahl variiert, bis zu sechs Knöpfen.

Ach, das ist mir gar nicht aufgefallen. Karikaturisten verfügen da offenbar über eine genauere Beobachtungsgabe als Textjournalisten. Wie wichtig ist das Äußere einer Person für Sie und Ihre Kollegen?

Sehr wichtig. Auf markante äußere Merkmale zu achten, gehört zu unserem Handwerk. Allein für die Wiedererkennung der Person, die man zeichnet. Aber das Äußere sagt natürlich nichts oder nicht alles über eine Person aus.

Wird aber gern medial ausgeschlachtet. Man erinnere sich an das Galakleid der Kanzlerin zur Eröffnung der Bayreuther Wagner-Festspiele 2017 mit tief ausgeschnittenem Dekolleté, das eine höhnische wie verkniffene, jedenfalls antifeministische Debatte auslöste.

Wunderbar für Karikaturisten. Man kann sich großartig über die mediale Aufregung lustig machen. Aber prinzipiell sollten politische Karikaturisten weniger die Hüllen denn die Inhalte interessieren.

Würden sie meinen Eindruck einer zunehmenden Humorlosigkeit in der Gesellschaft bestätigen? Eine überspitzte Formulierung oder provokante Zeichnung wird mit Entsetzen und Entrüstung kommentiert.

Das hängt mit der globalen Vernetzung zusammen. Jeder kann alles sagen - und will auch zu allem etwas sagen. Soll er auch. Wenn er sachlich bleibt. Das Netz aber reagiert auf alles. Das gab es früher nicht. Meine Sorge ist, dass immer mehr Menschen immer weniger Ironie verstehen. Ironie will paradoxe Situationen aufspießen, auf Widersprüche aufmerksam machen. Heute nutzen viele die Emojis, um anzuzeigen: »Eh, das ist jetzt nicht ganz ernst gemeint.« Triumph eines Piktogramms über das Denken.

Und die Ankündigung einer Pointe ist sowieso der Tod eines jeden Witzes.

Ja. Und es ist das bittere Schicksal mancher, vor allem tagespolitischer Karikaturen, missverstanden zu werden.

Das mag sich auch allgemeiner Verunsicherung oder einer apodiktisch gehandhabten Political Correctness verdanken.

Andererseits versuchen manche auch, undemokratische oder inhumane Auffassungen hinter Satire oder Ironie zu verstecken.

Wie der Tübinger grüne Oberbürgermeister Boris Palmer?

Und andere.

Darf Satire alles?

Das ist die klassische und in der Tat schwierige Frage. »Was darf Satire?«, hat Kurt Tucholsky gefragt. Und meinte: »Alles!« Aber auch er kannte Grenzen. Satire darf vieles, aber es gibt gewisse Tabus. Was Satire meines Erachtens keinesfalls darf: einprügeln auf schwache, wehrlose Menschen im selbst unverschuldeten Unglück. Sie verdienen unser Mitleid und nicht Spott. Über sie Witze zu machen, geht gar nicht.

Sie haben als Karikaturist also einen strengen Moralkodex?

Streng ist der nicht. Aber man hat gewisse Erfahrungen und Grundwerte, nach denen man entscheidet: Löcke ich jetzt den Stachel, mache ich mich über eine Person oder eine Situation lustig, oder lass ich es sein?

Wann haben Sie Ihr Talent entdeckt?

Während meines Studiums der Kunstgeschichte. Eigentlich wollte ich Kunst studieren, erkannte dann aber, dass die Karikatur mir mehr liegt als die Malerei. Und diese Entscheidung habe ich nie bereut.

Gibt es Unterschiede zwischen den beiden genannten Metiers?

Es gibt natürlich Unterschiede, aber was die Kreativität betrifft, sind Karikaturisten ebenso beansprucht oder anspruchsvoll wie die großen Künstler, obwohl wir nie so anerkannt sind.

Leiden Sie darunter.

Nein.

Haben Sie ein Vorbild oder Vorbilder?

Hatte und habe ich eigentlich nicht. Natürlich verfolgt man die Arbeiten der Kollegen und kennt auch die großen Namen der Zunft. Als Kunsthistoriker habe ich mich vor allem mit den französischen und britischen Karikaturisten des 19. Jahrhunderts beschäftigt, etwa Honoré Daumier oder James Gillray, die Napoleon, den Zaren und die britischen Royals karikierten, Kriege, Intrigen, Machtkämpfe auf internationaler Bühne bissig kommentierten, aber auch Sozialkritik übten.

Das waren faktisch die ersten Pressekarikaturisten.

Ja. Francisco de Goya hat mich ebenso beeindruckt und inspiriert. Sein wohl berühmtestes Gemälde von der Familie des spanischen Königs Karl IV. ist ziemlich entblößend, karikierend. Und sein Grafikzyklus »Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer« gehört zu den größten Werken der Aufklärung.

Ihr Tipp zum Wahlausgang am Sonntag?

Da habe ich keinen. Das ist im Augenblick sehr ungewiss. Es ist alles ziemlich unübersichtlich. Ich lass mich überraschen.Warten wir den 26. September ab.

Aber Sie favorisieren doch gewiss eine bestimmte Koalition - oder Koalitionen?

Meine private Meinung werde ich hier natürlich nicht verraten.

Recht so, ist ja auch eine geheime Wahl. Waren Sie schon wählen?

Nein, ich werde erst am Wahlsonntag meine Kreuze machen. Das mag altmodisch, konventionell erscheinen. Der Mensch ist aber eben auch ein Gewohnheitstier.

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