Prekäre haben keine Wahl

Für viele in Berlin ist nur ihre soziale Lage entscheidend, nicht der Wahlausgang

  • Claudia Krieg
  • Lesedauer: 4 Min.

»Schön und gut« sei der Plan, sagt Raoul Domurath am Freitag vor dem Wahlsonntag zu »nd«. Domurath meint das verkündete Ziel von Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke), Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Berlin bis 2030, also innerhalb der kommenden zwei Legislaturen, zu beenden. »Das geht schon in die richtige Richtung«, sagt der gelernte Einzelhandelskaufmann, der Experte für das Thema ist: Er ist selbst wohnungslos und lebt in einer Gemeinschaftsunterkunft.

Seit 2005 in Berlin, habe er mit Empörung angesehen, wie in der Hauptstadt der Mietenwahnsinn immer weiter eskalierte, erzählt er. Die Gentrifizierung in einzelnen Stadtteilen sei eine Katastrophe, sagt Domurath. Um das zu stoppen, müsse noch weitaus mehr getan werden, als eine Quote für von Wohnungslosigkeit Bedrohte oder Betroffene bei der Neuvermietung landeseigenen Wohnraums festzulegen, wie es der »Masterplan zur Beendigung unfreiwilliger Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis 2030« vorsieht. »Was ist mit den unzähligen Ferienwohnungen, die einmal Mietwohnungen waren? Was ist mit dem Leerstand, mit dem spekuliert wird?«, fragt der 40-Jährige.

Von einer »Katastrophe« spricht er auch im Hinblick auf mögliche Regierungsbildungen nach den am Sonntag stattfindenden Wahlen zum Abgeordnetenhaus. »Eine Koalition aus SPD, CDU und FDP wäre der Untergang«, antwortet er auf die Frage, inwiefern die Belange von Menschen wie ihm in den Programmen der zur Wahl antretenden Parteien vorkommen. »Franziska Giffey nehme ich es nicht ab, dass sie sich wirklich für uns einsetzt«, sagt Domurath. Allein die Fortsetzung der rot-rot-grünen Koalition biete zumindest eine Chance, dass sich der Mieterschutz durchsetzt. Weil der Wohnungslose bei dem Thema nicht nur mitreden kann, sondern auch will, kandidiert er zu den Abgeordnetenhauswahlen für die »Mieterpartei« in Tempelhof-Schöneberg. Kleine Parteien, sagt er, hätten durchaus die Möglichkeit, an der Ausrichtung der Regierung mitzuwirken. Und: 38 Prozent der Wähler*innen seien noch unentschlossen, wem sie ihre Stimme geben wollen, sagt Domurath am Freitag. Deshalb geht er nach dem Gespräch direkt wieder los und versucht, in seinem Bezirk Menschen auf der Straße davon zu überzeugen, ihn zu wählen.

Zusätzlich zu den über 50.000 wohnungslosen Menschen in Berlin leben schätzungsweise noch einmal so viele Menschen ohne Papiere in der Hauptstadt. Hochprekär, ohne Aufenthaltstitel, in ungeregelten Arbeits- und Wohnverhältnissen, ausgeschlossen von Ansprüchen auf soziale Leistungen und Gesundheitsversorgung.

»Die Lebenssituation tausender Menschen ohne Papiere in Berlin hat sich in Zeiten der Pandemie dramatisch verschlechtert«, sagt Anna Kimani, eine der Sprecher*innen der Kampagne »Legalisierung Jetzt« wenige Tage vor dem Wahlsonntag. »Und trotzdem hat die Berliner Landesregierung keinerlei politischen Willen gezeigt, sich für unsere dringenden Legalisierungsforderungen stark zu machen«, so Kimani weiter. Die Mitglieder der Kampagne, ein Bündnis aus 60 migrantischen und antirassistischen Organisationen mit zahlreichen selbstorganisierten Betroffenen, haben sich schon 2020 mit einem Offenen Brief an die Berliner Politik gewandt. Darin protestieren sie gegen die Tatenlosigkeit des rot-rot-grünen Senats und forderten einen anonymen Zugang zu Gesundheitsversorgung sowie die Umsetzung der in den Wahlprogrammen erwähnten »City-ID«, die »tatsächlich einen umfangreichen und einfachen Zugang zu den städtischen Dienstleistungen, so auch Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen«, ermöglicht. Die Regierung aus SPD, Die Linke und Grünen habe in ihrem Koalitionsvertrag noch versprochen, die landespolitischen aufenthaltsrechtlichen Möglichkeiten für humanitäre Legalisierungsinitiativen auszuschöpfen. Auf die von der Kampagne vorgebrachten Hinweise zu landesrechtlichen Möglichkeiten habe der Senat jedoch in keiner Weise reagiert.

Zu den Zehntausenden, die in den Wahlansprachen gar nicht vorkamen, kommen noch Hunderttausende, die zum Teil seit Jahrzehnten in Berlin leben, aber kein Recht auf Mitbestimmung haben. Sie alle sind jeden Tag von politischen Entscheidungen, die im Land fallen, abhängig. Von Rassismus betroffen, arm, ohne Chancen auf dem Wohnungsmarkt: »Ich lebe mit meiner Frau und drei Kindern in einer Zweizimmer-Wohnung und suche seit vier Jahren eine größere«, erzählt Malik Mahmoud. Eingeladen worden zu Wohnungsbesichtigungen sei er nur, wenn er sich mit einem deutschen Namen bewerbe. Aber natürlich sei er dennoch chancenlos. Er habe mit seinen Eltern, die als Bürgerkriegsflüchtlinge nach Berlin gekommen seien, ständig von Flüchtlingsunterkunft zu Flüchtlingsunterkunft umziehen müssen. »Ich konnte somit keine Freunde finden, war immer allein«, erinnert er sich. Das würde er seinen Kindern gern ersparen. Also bleibe es bei der viel zu kleinen Wohnung in der Nähe des Neuköllner Schifffahrtskanals. Dass der Vergesellschaftungs-Volksentscheid auch seine Situation verbessern kann, glaubt er nicht. »Aber schön wäre das.«

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