Ein Störfaktor

»Die Gegenstimme«: Thomas Arzt schreibt über den Anschluss Österreichs und über den Druck zum Mitläufertum

Gibt es Gegenstimmen? Eine alltägliche Frage bei Abstimmungen jeglicher Art, von der Vereinsversammlung bis zum Bundestag. Eine Selbstverständlichkeit. Es gab Zeiten und gibt immer noch Orte, da sah und sieht es anders aus.

»Die Gegenstimme« heißt der Roman von Thomas Arzt, und allein, dass er den Begriff gleich im Titel führt, zeigt an: Die Gegenstimme, um die es hier geht, ist ganz und gar keine Selbstverständlichkeit, sondern eine unerhörte Angelegenheit, ein Politikum, ein Skandal. Es ist Palmsonntag im April 1938, die Österreicher sollen über den sogenannten Anschluss an das Hitler-Reich abstimmen, der eigentlich schon längst beschlossen ist.

»Geht der Bleimfeldner Karl, geht die Ortsstraße hinan, vom Bleimfeldnershaus, wo der Vater Schuster und er schon gar nicht mehr wirklich daheim, weil er doch lang schon fort.« So beginnt das Buch, und dieser erste Satz gibt den Ton vor. Thomas Arzt, einer der erfolgreichsten jüngeren Theaterautoren Österreichs, spürt einer Geschichte nach, die sich so oder so ähnlich in seiner Familie zugetragen hat.

Der Bleimfeldner Karl kommt aus Innsbruck, wo er studiert, in sein Heimatdorf, um seine Stimme abzugeben. Eine Gegenstimme soll es sein, wie sich herumgesprochen hat. Eine Dreistigkeit, denn höheren Orts erwartet man totale Befürwortung, 100 Prozent. Entsprechend elektrisiert ist Stimmung: Siegesbesoffen einerseits, denn die Sache ist ja klar, und man möchte nur allzu gern dem neuen Führer zujubeln. Angespannt andererseits, denn es könnte doch sein, dass irgendjemand dazwischenfunkt und den Feiertag verdirbt.

Dann kann die allgemeine Vorfreude schnell in Feindseligkeit umschlagen, in Aggression. Leuten, die bis mittags noch nicht im Rathaus waren, um zu wählen, wird die Aufforderung an die Tür genagelt, dies schleunigst nachzuholen. Die Jungbauern laufen agitierend von Haus zu Haus. Der Förster will eine »Führereiche« fällen. Nur wenige zweifeln, und die behalten es lieber für sich. Der Bürgermeister verlangt unbedingte Gefolgschaft und wird ungemütlich, wenn jemand die pro forma aufgestellte Wahlkabine tatsächlich benutzen will.

Der Bleimfeldner Karl geht in die Wahlkabine, allen Warnungen zum Trotz. Und löst damit eine Hetzjagd aus, der er nur mit viel Glück entgeht. Dabei ist er kein Linker, nicht einmal ansatzweise; auch kein Widerstandskämpfer, wie die Familienlegende nahelegte. Er ist, das hat Arzt recherchiert, ein national gesinnter Burschenschaftler, dem der eigene austrofaschistische Kanzler Schuschnigg lieber ist als der Naziführer aus dem großen Nachbarland. Das genügt schon, um zum Außenseiter zu werden.

Thomas Arzt beschreibt diesen einen Tag in atmosphärisch dichten Szenen; man spürt beim Lesen die Theatererfahrung des Autors. In knapper Sprache, eingefärbt in einen Kunstdialekt, erzeugt er Spannung und ein Gefühl der Gefährdung, des Unheils, das beinahe greifbar in der Luft liegt. Vom drohenden Unterton bis zur Gewalttat ist es nur ein kurzer Schritt. Die immer wieder unvollständigen Sätze geben Raum frei für die Fantasie der Leser.

»Die Gegenstimme« ist ein schmales, fesselndes Buch über Druck und Anpassung in politisch rauen Zeiten. Über Angst, Selbstachtung und Selbstverleugnung. Über Mut und – das Wort gab es damals wohl noch nicht – Zivilcourage. Es ist auch ein Buch über unsere Gegenwart.

Thomas Arzt: Die Gegenstimme. Residenz-Verlag, 192 S., geb., 20 €. Der Roman ist derzeit als Lesung zu hören in der ARD-Audiothek: ardaudiothek.de

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