Fehlersuche mit Kampfansage

Die Linke-Führung sucht nach der Bundestagswahl die offene Auseinandersetzung mit Sahra Wagenknecht

Der Wahlkampf ist vorbei, das Ergebnis ist eine Katastrophe – die nun fällige Auseinandersetzung findet mit offenem Visier statt. So jedenfalls ist ein Beitrag von Bundesgeschäftsführer Jörg Schindler zu verstehen, der am Mittwoch auf der Internetseite links-bewegt.de, dem Onlinemagazin der Linkspartei, veröffentlicht wurde und dem »nd« vorab vorlag. In dem Text, dessen wichtigste Aussagen Schindler schon in die Debatte des Linke-Parteivorstands am Wochenende eingespeist hatte, geht es bei der Suche nach Ursachen für das enttäuschende Wahlergebnis an zentraler Stelle um Sahra Wagenknecht.

Im Wahlkampf, schreibt Schindler – seit Sommer 2018 Bundesgeschäftsführer der Linkspartei und in dieser Eigenschaft maßgeblich verantwortlich für die Wahlkampagne –, habe man maßgeblich auf soziale Themen gesetzt (so waren fünf von acht Plakatmotiven sozialpolitischer Natur) und sowohl mit klassischen Methoden als auch auf Social-Media-Kanälen für Die Linke geworben. Dennoch landete die Partei, die Ambitionen hatte, Teil einer Regierung mit SPD und Grünen zu werden, weit abgeschlagen und unter ihren Erwartungen.

Schindler spricht drastisch von einer »Todesstrafe auf Bewährung«: Todesstrafe, weil weniger als fünf Prozent eigentlich den Absturz in die Bedeutungslosigkeit darstellen; Bewährung, weil wegen der drei Direktmandate doch noch eine kleine Linke-Fraktion im Bundestag vertreten sein wird. Die und die gesamte Partei hätten nun »vier Jahre Zeit zu zeigen, dass wir gesellschaftspolitischen Wert haben«. Schindler, von Beruf Rechtsanwalt, nennt das »unsere Bewährungsauflage«.

Was ist also schiefgelaufen? Zur Erklärung bemüht Schindler einen Rückgriff auf die letzten Jahre. Seit 2015 hätten sich neue gesellschaftliche Konflikte herausgebildet: die Debatte über Deutschland als Einwanderungsgesellschaft, die Dringlichkeit des Klimawandels, der Umgang mit der Corona-Pandemie und Veränderungen der Weltordnung im Kraftfeld zwischen den USA, der EU, Russland und China. Viel zu diskutieren für eine linke Partei, die dazu, so Schindler, »recht breit getragene Mehrheitspositionen« auf Parteitagen gefunden habe – und dennoch ein widersprüchliches Bild abgab. Denn der Linken sei es nicht gelungen, »einen für alle Mitglieder verbindlichen Positionskorridor herzustellen, der nicht verlassen werden darf«.

Und damit ist Schindler bei Sahra Wagenknecht, die kraft ihrer medialen Wirkung erheblich zum öffentlichen Bild der Linken beiträgt. Während Die Linke insgesamt »ein gesellschaftliches Mitte-unten-Bündnis« anstrebe, die Verbindung »verschiedener Perspektiven und Milieus mit ihren sozialen und kulturellen Ansprüchen«, betreibe Wagenknecht »eine Art Wiederkehr des Sektierertums der 70er Jahre«. Statt in einer Bündnispolitik »aus dem Gemeinsamen heraus Fortschritte im gesellschaftlichen Prozess zu erzielen«, gehe es bei Wagenknecht darum, »alle Facetten und Widersprüchlichkeiten realer Wähler*innen für nicht geeignet und nicht bündnistauglich« zu erklären.

Kritik an der verbindenden Klassenpolitik

Im Zuge seiner Wagenknecht-Kritik erinnert Schindler an die Aufstehen-Bewegung, die er als Parallelstruktur und den Versuch bezeichnet, »vielleicht sogar mit offener organisatorischer Separierung oder gar Spaltung zu liebäugeln«. Ihr im Frühjahr dieses Jahres erschienenes Buch »Die Selbstgerechten« lese sich wie eine Kritik zum Kurs der verbindenden Klassenpolitik und auch wie eine Kritik der Linke-Wahlprogrammatik. Der Auseinandersetzung darüber schreibt Schindler den Verlust der Linken von ein bis zwei Prozentpunkten in den Umfragen zu – und damit ein Absinken »auf das Level der elektoralen Existenzgefährdung«.

Zu den in der Partei umstrittenen Fragen gehören auch außenpolitische Themen. Selbstverständlich stehe Die Linke für Entspannung und Frieden mit Russland, so Schindler. Gleichzeitig aber erweckten einzelne Abgeordnete den Eindruck »einer Parteinahme für die autoritäre Politik der russischen Regierung«. Das sei nicht aufklärerisch und »erweckt den Verdacht der Unaufrichtigkeit und doppelten Standards«.

Offen ist zudem die Haltung zum Vorschlag eines Bedingungslosen Grundeinkommens. Dazu werde es einen Mitgliederentscheid geben, den Die Linke laut Schindler mit einer Offensive über die Frage verbinden sollte, »wie ein Sozialstaat des 21. Jahrhunderts aussehen soll«. Als sei das noch kein ausreichendes Arbeitsprogramm, legt er der Partei noch ein dickes Brett auf die Werkbank: Gebraucht werde »nicht weniger als eine aktualisierte Theorie des Imperialismus und seiner politischen Praxis, die sich nicht auf die Seite von Staaten, sondern von Bewegungen stellt«. All diese Debatten müssten geführt werden – »wenn es sein muss scharf, aber auf jeden Fall mit Ergebnissen«.

Mit seinem Debattenbeitrag schaltet sich der Linke-Bundesgeschäftsführer ungewöhnlich frontal in die Auseinandersetzung mit Wagenknecht ein. Es ist teils Diskussionsangebot, teils Kampfansage. Dabei ist die inhaltliche Auseinandersetzung die eine Seite; auf der anderen Seite steht die Frage, ob und in welcher Form Sahra Wagenknecht wieder eine herausgehobene Rolle in der Linkspartei oder ihrer Bundestagsfraktion spielen sollte. Die Antwort darauf hängt davon ab, ob man Wagenknecht als Teil des Problems oder als Teil einer Lösung ansieht. Die Linke-Abgeordnete Kathrin Vogler jedenfalls, wie Wagenknecht in Nordrhein-Westfalen in den Bundestag wiedergewählt, äußerte in einem Schreiben an die Parteiströmung Sozialistische Linke (SL) ihr Unverständnis über die Einschätzung, mit Wagenknecht an zentraler Stelle hätte Die Linke mehr Stimme gewonnen als verloren. Dies hatte die SL in ihrer Wahlanalyse konstatiert.

Vogler schreibt, auch in Nordrhein-Westfalen, wo Wagenknecht Spitzenkandidatin war, habe Die Linke ihr Ergebnis gegenüber 2017 halbiert. Vielleicht sei das ein Hinweis darauf, merkt Vogler sarkastisch an, »dass viele Menschen, die Sahra gerne reden hören, die ihre Bücher und ›Focus‹-Kolumnen lesen und ihr in Social-Media-Foren zujubeln, daraus nicht unbedingt die Schlussfolgerung ziehen, auch die Partei zu wählen, die Sahra als Frontfrau aufgestellt hat«. Wer Die Linke warum nicht gewählt hat – dies bleibt ein weites Feld für kontroverse Debatten.
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