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Geschichtsbewusster Grenzgänger
Der sozialistische Germanist Jost Hermand ist gestorben
Jost Hermand war die feste Stimme einer kritischen Germanistik. 1930 in Kassel geboren, verbrachte er in Folge der sogenannten Kinderlandverschickung die Kriegsjahre im heutigen Polen. In der Nachkriegszeit begann er in Marburg ein breites Studium der Literaturwissenschaft und der Geschichte, der Philosophie und der Kunstgeschichte, das in einer germanistisch ausgerichteten Promotion mündete. Der Kunsthistoriker Richard Hamann, bei dem Hermand studiert hatte, der ihm zum väterlichen Lehrer geworden war und dem er vor gut zehn Jahren »Eine politische Biografie« widmete, führte ihn aus der verstockten Stadt an der Lahn ins östliche Berlin. Hier arbeiteten die beiden gemeinsam an der – bis heute Maßstäbe setzenden – Buchreihe »Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus«, einem beeindruckenden Versuch einer materialistischen Kunstgeschichtsschreibung. Dennoch – es war kein einfaches Verhältnis zwischen dem jungen Intellektuellen und der taufrischen DDR.
1957 ging Hermand westwärts. Die mangelnde Aussicht auf eine universitäre Anstellung in der BRD führte ihn nach Madison, Wisconsin, wo er bald eine Professur für Neuere deutsche Literatur bekleidete. Madison blieb Hermands Lebenssitz, an dem er sich selbst treu blieb. Was heißt hier Treue? Sein kulturgeschichtliches Interesse verhinderte zeitlebens den starren Blick nur auf sein eigenes Fachgebiet: Das Interesse an Musikwissenschaft und Kunstgeschichte, an gesellschaftspolitischen Themen ohnehin, bereicherte sein akademisches Schaffen. Seine Überzeugung, Literatur nicht gelöst von geschichtlichen Ereignissen betrachten zu können, setzte sich fort. Und Hermand emigrierte nicht politisch in Richtung Nordamerika, er blieb ein kritischer Geist – und produktiv bis in sein hohes Alter. Der fremd-vertraute Blick auf die östliche und westliche Literatur in seiner Muttersprache dürfte seiner Arbeit förderlich gewesen sein. Seine in zwei Bänden erschienene Kulturgeschichte der Bundesrepublik bildet sein opus magnum.
An einer zeitgeistigen Kulturwissenschaft hatte er selbstredend kein Interesse. Von trendbewussten Forschern als überholt abgetan, hielt Hermand an seiner Herangehensweise fest, ohne sich neuen Themen zu verschließen. »Nach der Postmoderne. Ästhetik heute« ist ein Buch von ihm überschrieben, 2004 erschienen, zu einer Zeit also, in der viele seiner Kollegen noch glaubten, die Unbegreiflichkeit der Welt und ihrer Einrichtung immer wieder aufs Neue beschreiben zu müssen. Wer Zweifel an einer solchen Unabhängigkeit von akademischen Moden hat, der sei auf Hermands Schriften zu Kultur und Umweltzerstörung – heute spricht man medienwirksam von Klimakatastrophe – verwiesen. Seine klimabewegten Publikationen seit den 80er Jahren sind lesenswert und führen die Kleingeistigkeit vollkommener Gegenwartsbezogenheit, wie sie uns heute innerhalb und außerhalb des Wissenschaftsbetriebs begegnet, vor Augen.
Sieht man in Hermands lange Publikationsliste fallen zwei Namen auf, auf die der Denker immer wieder zurückkam: Heinrich Heine und Bertolt Brecht, zwei progressive Literaten von Weltrang, aus ihrer Heimat verstoßen, einer anderen Zukunft zugewandt. »Das Ewig-Bürgerliche widert mich an« lautet der Titel eines von Hermands Büchern mit Brecht-Studien – ein Zitat des Augsburger Klassikers. Hermand ließ stets beides gelten: das Bürgerliche und das Anti-Bürgerliche, das Unterhaltende und das Tiefschürfende.
Aus Anlass seines 90. Geburtstags im April vergangenen Jahres hat die Hans-Mayer-Gesellschaft, dem Andenken eines anderen großen marxistischen Literaturhistorikers deutscher Herkunft gewidmet, Hermand zu ihrem Ehrenmitglied ernannt. Allein in den letzten fünf Jahren hat er ein knappes Dutzend Monografien veröffentlicht. Jost Hermand hat sich sein tiefes Interesse für diese Welt bewahrt. Am 9. Oktober ist er 91-jährig in Madison gestorben.
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