• Kultur
  • Buchmesse Frankfurt/Main

Von Aufbruch und Apathie

Robert Rauh wollte wissen, warum es 1961 keinen Aufstand gegen die Mauer gab

  • Stefan Bollinger
  • Lesedauer: 5 Min.

Ja, die Mauer war schlimm, aber notwendig.« Diese Einschätzung einer Ärztin, die vor 60 Jahren, als über Nacht die Grenze von Ost- nach Westberlin abgeriegelt wurde, an der Charité arbeitete, fasst die Befunde der bemerkenswerten Studie von Robert Rauh treffend zusammen. Der Autor, in der DDR geboren, trieb die Frage um: Weshalb kam es in jenen Augusttagen 1961 in der DDR nicht zu einem Volksaufstand gegen das die Stadt an der Spree teilende Bauwerk? Die gängige Geschichtsschreibung behauptet, der Bau der Berliner Mauer sei in der Bevölkerung mehrheitlich auf Ablehnung gestoßen, wenige überzeugte Funktionäre ausgenommen.

• Buch im nd-Shop bestellen
Robert Rauh: »Die Mauer war doch richtig!« Warum so viele DDR-Bürger den Mauerbau widerstandslos hinnahmen.
Bebra, 208 S., geb., 20 €.

Die seinerzeitige Stimmung authentisch zu rekonstruieren, ist im zeitlichen Abstand ein wenig schwierig. Medien in Ost wie West bedienten in den Jahren des Kalten Krieges Stereotype der Systemauseinandersetzung. Meinungsforschung gab es in der DDR noch nicht, sie kam erst mit der Einführung des Neuen Ökonomischen Systems auf und wurde mit dem Abwürgen der Wirtschaftsreformen auch bald wieder beseitigt. Fotos aus dem Jahr 1961 zeigen Protestkundgebungen, aber nur auf Westberliner Seite. Schnappschüsse auf östlicher Seite dokumentieren einige sporadische Aufläufe überraschter wie neugieriger oder resignierter Menschen, aber keine Aktionen.

Die Auswertung von zeitgenössischen Akten der SED, des Gewerkschaftsbundes FDGB und des Ministeriums für Staatssicherheit bestätigen: Die Lage war ruhig. Akribisch vermerkt sind aber auch einige kleine Flugblattaktionen und missmutige Meinungsäußerungen. Die Zahl von Verurteilungen aus politischen Gründen blieb im Vergleich zu 1953 überschaubar. Die DDR-Führung sah sich nicht ernsthaft bedroht; im Juni 1962 gewährte sie eine umfassende Amnestie.

Offensichtlich waren die Folgen der Grenzschließung für viele DDR-Bürger, trotz sie teils bereits unmittelbar betreffender familiärer Härten, nicht zu erahnen. Die Kluft zwischen dem Lebensstandard in Ost und West, der spektakuläre Umtauschkurs, Warenausverkauf im Osten, Schmuggel sowie bis zu 80 000 »Grenzgänger«, die im Ostteil Berlins als Arbeitskräfte fehlten, verschärften die ökonomische Krise in der DDR, die auch hausgemacht war - geschuldet der überstürzten Kollektivierung der Landwirtschaft sowie dirigistischer Wirtschaftspolitik der SED. Dies alles bewegte die DDR-Bürger mehr als die Grenzschließung. »Dass vieles knapp war, hat die Leute mehr aufgeregt als die Mauer«, erinnert sich eine Verkäuferin.

Rauh hat neben den Akten Briefpublikationen ausgewertet und eine Befragung unter damaligen DDR-Bürgern geführt. Über 53 Prozent stimmen unterschiedlich intensiv der Einschätzung zu, dass der Mauerbau damals notwendig war. Interessant dabei: Nur ein Viertel der Befragten gehörte damals der SED an, und fast vier Fünftel sahen die DDR keineswegs als demokratisch legitimiert an. Über Rauhs methodisches Herangehen kann sicherlich gestritten werden. Dennoch beeindrucken seine Befunde, die konträr zur offiziellen Geschichtsschreibung über die DDR stehen. Der Autor konstatiert nebenbei verwundert, dass »über das Grenzregime des SED-Staates ... auch heute die wenigsten Ostdeutschen offen sprechen« wollen. Wer hindert sie heute daran, frei ihre Meinung zu sagen?

Rauh versteht, dass DDR-Bürger 1961, so sie sich in der überwiegenden Mehrheit nicht für eine Flucht entschieden, unter den Alltagsmängeln einer krisengeschüttelten Wirtschaft litten. Außenpolitische Zusammenhänge tut er jedoch als SED-Propaganda ab. Tatsächlich gab es jedoch 1961 eine gefährliche Zuspitzung der internationalen Lage, die zu einer brisanten Eskalation zwischen den Supermächten hinsichtlich Kuba und Indochina führte und den US-Präsidenten John F. Kennedy und den sowjetischen Partei- und Regierungschef Nikita Chruschtschow im Juli 1961 in Wien zum Gespräch drängte. In diesem wurde vereinbart, dass eine Veränderung des Status quo in Deutschland und Berlin von beiden Seiten nicht gewünscht war. Moskau und Ostberlin bekamen freie Hand, die Krise in der DDR auf ihre Weise zu lösen - vom Westen sicher mit der Überzeugung verbunden, dass dies moralisch für den Osten desaströs werde. Auch hier wären Einsichten in den Charakter des deutsch-deutschen Konflikts, des künstlich erzeugten Wechselkurses, der Anwerbung von DDR-Bürgern in den Westen zu befragen. Und es wäre auch danach zu fragen, ob und wie sich Bonn auf eine (mit verursachte) Krise der DDR mit allen, auch militärischen Mitteln vorbereitete.

Bemerkenswert ist die Feststellung des Autors, dass nur einmal, 1987, einige Tausend Jugendliche angesichts eines in Westberlin nahe der Grenze stattfindenden Rockkonzerts offen gegen die Mauer demonstrierten. Noch bemerkenswerter ist seine Beobachtung, dass »die Mauer in den Papieren und Programmen der Oppositionsbewegung in den 80er Jahren nicht thematisiert wurde«. Dessen ungeachtet stehen über drei Jahrzehnte nach dem Umbruch und dem Untergang der DDR nicht die Reformeinforderungen der Bürgerrechtler im Fokus der Erinnerung, sondern der Fall der Mauer und der Vollzug der deutschen Einheit.

Rauh resümiert als Ergebnis seiner Recherchen: »Selten waren sich SED-Führung und Bevölkerung so nah. Allerdings gab es unterschiedliche Motive, den Zusammenbruch zu verhindern. Die DDR-Bürger wollten vor allem die wirtschaftliche und soziale Krise überwinden. Der SED-Führung ging es in erster Linie darum, ihre politische Macht zu sichern.« Auch wenn hier, wie so oft, der politische Anspruch der SED verabsolutiert wird und nicht akzeptiert wird, dass es auch einen Anspruch auf die gemeinsame Gestaltung der Gesellschaft mit den Menschen im Land gab, so ist diese Aussage wohl im Kern treffend. Die Chance einer ungestörten Entfaltung des Sozialismus in der DDR wurde letztlich allerdings systematisch verspielt.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.