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Idyll und Tragödie

Thomas Manns späte Erzählungen, glänzend kommentiert von Hans Rudolf Vaget

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 4 Min.

Als der Erste Weltkrieg zu Ende war, das Elend und der Hunger groß, zog sich Thomas Mann ins Private zurück. Er wollte Abstand gewinnen. Jahrelang hatte er sich mit einem Buch herumgeschlagen, das er »ein Untier von einem Aufsatz« nannte, 600 Seiten mit einem Bekenntnis zu Deutschland, zur Monarchie und zum Krieg und zugleich eine erbitterte Schrift gegen seinen Bruder Heinrich, gegen die Vernunft, gegen Frankreich und die Ideen von 1789, genannt »Betrachtungen eines Unpolitischen«. Er hatte im letzten Augenblick noch versucht, den Druck zu stoppen, aber es war zu spät.

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Thomas Mann: Späte Erzählungen 1919-1953. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 6.1 u. 6.2 in Kassette, hg. u. kommentiert v. Hans Rudolf Vaget.
S. Fischer Verlag, 957 S., geb., 155 €.

Das Opus war, als es in die Hände der Leser kam, bereits anachronistisch: Das Kaiserreich war geborsten, und es dauerte nur noch Wochen, dann war das Land eine Republik, für Thomas Mann ein »starker Choc«. Mehr Freude bereitete da Bauschan, der Hund, mit dem er sich auf seinen täglichen Spaziergängen an der Isar vergnügte, und er feierte in seinem bezaubernden Idyll »Herr und Hund« diese erfrischende, anrührende und manchmal auch rätselhafte Seelengemeinschaft. Das Prosastück erschien 1919 zusammen mit dem »Gesang vom Kindchen«, dem Bericht in Hexametern über die Taufe der 1918 geborenen Lieblingstochter Elisabeth.

Beide Texte eröffnen die Sammlung der späten Erzählungen, mit der S. Fischer seine Edition der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns fortsetzt. Nach dem Band mit den frühen Erzählungen, der schon 2004 erschienen ist, liegen damit sämtliche kürzere Prosaarbeiten in der bislang anspruchsvollsten Ausgabe vor, präsentiert jeweils in zwei Büchern. Im ersten die Texte, im zweiten der Kommentar, der jede Arbeit ausführlich behandelt und zugleich die Jahre von 1919 bis 1953 zu überblicken hat, eine dramatische Zeit auch im Leben des Autors. An ihrem Anfang stehen Bekundungen der Tier- und Kinderliebe. Statt »Menschheitsdämmerung« zu beschwören, meinte ein Kritiker, schreibe der Autor Idyllen, die einen Hund und »ein Wickelkind zum Helden« haben.

Aber das änderte sich bald. Zehn Jahre später, bei einem Aufenthalt in Rauschen an der Ostseeküste, erinnerte sich Thomas Mann an ein Ferienerlebnis in Italien. Damals, im Sommer 1926, hatte die Familie den Auftritt eines Magiers mit Kunststücken und Hypnose erlebt, und er schrieb nun die Geschichte von Mario und Cipolla, dem Zauberer, die ihren tragischen Ausgang, die Tötung Cipollas durch sein Opfer, erst durch Tochter Erika erhielt, die sich wunderte, dass man den Widerling nicht erschossen habe. Das »tragische Reiseerlebnis«, die Erniedrigung eines Menschen und die freiwillige Unterwerfung unter die Macht des diktatorischen Magiers, inspirierte Thomas Mann, von der dumpfen Atmosphäre im Italien Mussolinis zu erzählen. Es wurde seine »erste Kampfhandlung« gegen die faschistische Bewegung.

Keine der hier versammelten Erzählungen, nicht »Unordnung und frühes Leid«, weder die Moses-Novelle »Das Gesetz« noch »Die Betrogene«, das letzte vollendete Werk, sind so berühmt geworden wie »Mario und der Zauberer«, die erste Veröffentlichung nach dem Nobelpreis von 1929 mit ihrer Beschwörung der widerwärtigen Eindrücke vom Sommer 1926, die auch in einem Brief an Hugo von Hofmannsthal dokumentiert sind. Der glänzende Kommentar, der die politische Dimension des Textes kenntlich macht, schildert eingehend die Beobachtungen, Empfindungen und Erfahrungen, die der Erzählung zugrunde liegen, etwa die erste Berührung mit dem italienischen Faschismus in Südtirol 1923, das Treiben der Hitler-Bewegung vor Thomas Manns Haustür in München oder die Konfiszierung einer Mailänder Zeitung, weil sie eine mit Zitaten gestützte Besprechung seiner »Pariser Rechenschaft« enthielt. Mancher Kritiker hat damals das Politische der Erzählung nicht sehen wollen oder als eine italienische Angelegenheit betrachtet. Aber schon 1929, in seiner »Rede über Lessing«, hat Thomas Mann sich gegen »jede Art von Faschismus« positioniert.

Der Kommentarband, mit Registern und Literaturverzeichnis über 400 Seiten stark, ist das Werk von Hans Rudolf Vaget, einem in den USA lebenden Literaturwissenschaftler, der nicht nur zu den besten Thomas-Mann-Kennern gehört, sondern auch zu den elegantesten Autoren seiner Gilde. Er hat die wichtige Korrespondenz des Schriftstellers mit seiner amerikanischen Mäzenatin Agnes E. Meyer ediert, auch ein großartiges, grundlegendes Buch über Thomas Mann in Amerika geschrieben und fasziniert hier mit einem unglaublichen Reichtum an Informationen und Einblicken.

Vaget beschreibt detailliert die Entstehung der Arbeiten, ihre persönlichen und historischen Voraussetzungen, die zeitgenössische Kritik sowie Ergebnisse und Impulse aktueller Forschung, das alles übersichtlich gegliedert und wohltuend leserfreundlich formuliert, fern jeder akademischen Attitüde. Besser, umfassender kann man sich über die sieben Erzählungen, die der Band vereint, nirgendwo informieren.

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