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Künstlerin und Mäzenatin
Ein Lebenswerk als Tagebuch: Dorothea Zwirner erzählt das spannende Leben der Thea Sternheim
Sie war Muse und Mäzenin, eine große Liebende und leidenschaftliche Mutter, Künstlerin durch und durch. Kaum jemand, der Thea Sternheim einmal begegnet ist, konnte sich ihrer Ausstrahlung, ihrem lebhaften Geist und ihrem Charme entziehen. Das bezeugen berühmte Künstlerfreunde wie Heinrich Mann oder Gottfried Benn, Frans Masereel oder André Gide, Annette Kolb oder Henry van de Velde.
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Dorothea Zwirner: Thea Sternheim. Chronistin der Moderne.
Biographie. Wallstein, 413 S., 39 Abb., geb., 28 €.
Diese ungewöhnliche Frau, Schriftstellerin und Kunstsammlerin hat einen einzigen Roman veröffentlicht, doch ihr Lebenswerk besteht vor allem aus Tausenden von Tagebucheinträgen, die sie über mehr als sechs Jahrzehnte niederschrieb, von 1903 bis zu ihrem Tod 1971. Stand sie auch lange Zeit im Schatten ihres Mannes, des Dramatikers Carl Sternheim, setzt sich doch mehr und mehr das Bewusstsein durch, dass sie selber eine höchst beeindruckende Persönlichkeit war - nicht zuletzt durch die Publikation ihrer Tagebücher, die der Wallstein-Verlag 2002 (2011 nochmals ergänzt um eine CD-ROM) in fünf voluminösen Bänden publiziert hat: ein Jahrhundertkompendium, das Licht und Schatten, die Höhepunkte und Katastrophen ihres Zeitalters dokumentiert. Ein Leben, entscheidend geprägt durch die beiden Weltkriege, die sie in Berlin, Brüssel, der Schweiz und Paris erlebt hat.
Geboren 1883 als Olga Maria Theresia Gustava Bauer in einer sehr reichen katholischen Industriellenfamilie in Neuss am Rhein, erhält das Mädchen eine vorzügliche Bildung in in- und ausländischen Pensionaten. Schon früh entwickelt sich ihre starke Affinität zur bildenden Kunst, und zeitlebens wird sie die großen Maler der Moderne wie van Gogh, Picasso oder Matisse sammeln und verehren. Eine frühe Ehe mit dem jüdischen Rechtsanwalt Arthur Löwenstein geht nicht gut. Doch schon 1903 lernt sie den jungen Dramatiker Carl Sternheim kennen, die große, wenn auch verhängnisvolle Liebe ihres Lebens.
20 Jahre wird sie mit ihm verheiratet sein, doch lebenslang an ihn gebunden bleiben. Mit dem Millionenerbe Theas kann sich das Ehepaar ein schlossartiges Anwesen leisten, das weniger Theas als Sternheims Repräsentationslust entspricht. Dort in Höllriegelskreuth bei München beginnen sie ihre Kunstsammlung aufzubauen. Doch auch diese Ehe scheitert: Carl Sternheim demütigt seine Frau mit Affären und verprasst ungeniert ihr Vermögen.
Sternheims Nähe trägt zerstörerische Züge. 1927, an ihrem 44. Geburtstag, vollzieht sie im Berliner Nobelhotel »Adlon« die schwere Entscheidung, sich von Sternheim zu trennen. Fortan geht sie ihre Wege konsequent allein, desillusioniert und des ständigen Umherziehens zwischen Städten und Ländern leid. Die immer deutlichere Gefahr des Faschismus erfüllt sie mit so großer Abscheu, dass sie bereits im April 1932 Deutschland verlässt und sich für Jahrzehnte in ihrem geliebten Paris ansiedelt, für sie die Hauptstadt der Künste. Die Kinder aus der Ehe mit Sternheim, Mopsa und Klaus, leben ebenfalls in Paris. Sie werden ihr allerdings, vor allem durch die Drogenabhängigkeit, viel Leid bescheren und beide vor ihr sterben.
Die Geschichte ihres Lebens und ihrer inneren Kämpfe und Enttäuschungen hat nun die Biografin Dorothea Zwirner aufgeblättert. Von Haus aus Kunsthistorikerin, stellt sie Thea Sternheims Interesse an der Malerei, Bildhauerei und Architektur in den Mittelpunkt der Darstellung. In der Kunstszene von Paris kann Thea aufatmen und feste Freundschaften mit zahlreichen Malern schließen. Ihr Vermögen allerdings ist durch die Inflation und viele Schicksalsschläge längst dahingeschmolzen. Wo immer Thea Sternheim eine kleine Wohnung findet, umhergetrieben durch die Krisen des Jahrhunderts, umgibt sie sich mit ihren Büchern und Bildern - und hält an ihrem Tagebuchschreiben fest. Bis ans Ende ihrer Tage bleibt sie eine aufmerksame, dünnhäutige, politisch hellwache Zeitgenossin und Chronistin.
Auch das Medium der Fotografie fasziniert Thea Sternheim. Sie geht darin neue Wege, hochgeschätzt sind ihre Porträtaufnahmen vieler Künstler. Doch die Besetzung Frankreichs durch die deutsche Wehrmacht 1940 macht all das zunichte. Verzweifelt notiert Thea im Tagebuch: »Welch eine Schande ist es, Deutscher zu sein!« Als die französische Pétain-Regierung die »feindlichen Ausländer« interniert, muss auch sie in das berüchtigte Lager Gurs in den Pyrenäen, erkrankt dort an der Ruhr, und nur durch die Hilfe ihrer französischen Künstlerfreunde kommt sie wieder frei.
Paris nach dem Krieg hat sich stark verändert, Thea Sternheim ist verarmt, die meisten ihrer Vertrauten sind in alle Winde zerstreut. 1952 erscheint immerhin ihr Roman »Sackgassen« im Limes-Verlag Wiesbaden, wenn er auch kein großer Erfolg wird. So zieht sie 1963 nach Basel zu ihrer Tochter aus der ersten Ehe, Agnes Löwenstein, dem einzigen ihr gebliebenen Kind. Bis zuletzt verfolgt und dokumentiert sie das Weltgeschehen. Thea Sternheims bleibende Leistung sind die durch Jahrzehnte geführten Tagebücher, die von ihrer starken Willenskraft, einer Mischung aus Gefühl und Intellekt zeugen.
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