Subjekt Pazifist

Reinhard Schult ist gestorben. Die kritische Haltung des Oppositionellen fand mit dem Untergang der DDR kein Ende

  • Karsten Krampitz
  • Lesedauer: 6 Min.

Reinhard Schult ist in seinem Leben sehr vieles gewesen. Theologiestudent zum Beispiel. Oder Betriebsmaurer beim VEB Fleischkombinat Berlin. Oder Bausoldat, was, jüngere Leser werden es nicht wissen, weniger mit seinem erlernten Beruf zu tun hatte. Später war Reinhard Schult Mitbegründer der »Kirche von unten« und noch später fünf Jahre Mitglied im Berliner Abgeordnetenhaus. Wolfgang Hübner schrieb in seinem Nachruf in dieser Zeitung darüber. Reinhard Schult, der am 26. September gestorben ist, nur drei Tage nach seinem siebzigsten Geburtstag - dieser Mann hat noch politische Auseinandersetzungen durchgestanden, deren Härte und Intensität die Aktivisten heute allenfalls vom Hörensagen kennen. Und manche kennen auch ihn nur vom Hörensagen.

Wiederum andere haben offensichtlich nicht richtig hingehört oder Schwierigkeiten mit der Erinnerung. Reinhard Schult war nie Mitglied bei Bündnis 90/Die Grünen. Und er ist auch nie aus deren Fraktion im Abgeordnetenhaus ausgetreten, wie es dieser Tage das digitale Kondolenzbuch nahelegt, das die Robert-Havemann-Gesellschaft ins Internet gestellt hat.

Die Staatssicherheit hatte ihn als »Objekt ›Pazifist‹« bezeichnet, was genau genommen auch nicht stimmte: Reinhard Schult war Subjekt. Ungeachtet aller Repression hat dieser Mann in der DDR ein selbstbestimmtes Leben geführt. Pazifist aber, das war er. Als Bausoldat hatte er den Dienst mit der Waffe verweigert, was in jenem Staat eine Entscheidung war, die nicht nur die anderthalb Jahre »Ehrendienst« betraf, sondern das gesamte Leben - ohne Karriere und ohne sozialen Aufstieg. Soldaten, deren Schulterstücke ein kleiner Spaten zierte, waren keine Drückeberger. In der NVA waren sie vielleicht die Einzigen, die Mut hatten.

»Die offizielle Politik hat immer von Frieden geredet«, erinnerte sich Reinhard Schult viele Jahre später. In der NVA habe er dann aber »Militarismus pur« erlebt. Das Interview mit ihm erschien in dem Buch »Das Begehren, anders zu sein«, das der Unrast-Verlag 2012 herausbrachte, mit dem Untertitel »Politische und kulturelle Dissidenz von 68 bis zum Scheitern der DDR«. In dem Band erzählt Schult der Herausgeberin Anne Seeck, wie er in Kontakt zur Evangelischen Studentengemeinde gekommen war. Der ESG-Friedenskreis hatte sich 1977 gegründet, »wir waren ein kleiner Kreis von acht bis zehn Leuten. Da haben wir pazifistische Propaganda für die Bausoldaten gemacht, Texte zum Beispiel von Tucholsky, Kästner, Wolfgang Borchert und die Bausoldatenverordnung im kirchlichen Raum verteilt.« Die Stasi beobachtete die Gruppe bereits, die sich 1979 beim Berliner Pfingstfest an einer FDJ-Diskussion zum Frieden beteiligen wollte. Den Versuch war es wert. »Sie sagten, wir dulden es nicht, dass nicht im Sinne des Festivals diskutiert wird. Dann erteilten sie uns Platzverbot um den Alex.«

Noch im selben Jahr wurde Reinhard Schult verhaftet. Die Staatsanwaltschaft warf ihm Beihilfe zur Republikflucht vor und, dass er staatsfeindliche Pamphlete mit in den Betrieb gebracht hätte. Schult, der niemanden bestohlen oder betrogen und auch keinem Menschen Gewalt angetan hatte, saß acht Monate in Haft. Im Gespräch mit Anne Seeck beschrieb er seine Zelle: »2 mal 3,50 Meter. Zwei Liegen. Zwei Hängeschränke. Ein Klobecken. Ein Waschbecken. Zwei Hocker. Unter der Liege nur noch ein Klapptisch. Ich war in einer Zwei-Mann-Zelle und habe sechs U-Häftlinge erlebt. Zwei-, dreimal war ich alleine. Eine Freistunde in der Freiluftzelle draußen. 2,50 mal 6 Meter.« Sechs Uhr wurde geweckt, 21.30 Uhr war Nachtruhe. Das »Neue Deutschland« durfte er lesen. Alle zehn Tage war Einkauf. »Einmal im Monat kam Besuch. Zweimal in der Woche kam ein Arzt. Es waren keine Fenster, sondern Glasbausteine. Wenn du geraucht hast, musstest du dich an den Luftschacht stellen.« Acht Monate so leben müssen, das prägt einen Menschen. Das vergisst man nicht. Und das vergibt man auch nicht.

Im Abgeordnetenhaus warf er 1993 der PDS vor, »eine stalinistische Partei und eine Interessenvertretung des alten Regimes« zu sein. Die MfS-Vergangenheit sozialistischer Mandatsträger erregte immer wieder seinen Zorn. Wobei er auch am Verfassungsschutz kein gutes Haar ließ: »Die Existenz von Geheimdiensten ist ein Angriff auf die Demokratie, deshalb müssen ihre Strukturen offengelegt, ihre Mitarbeiter enttarnt und sie müssen aufgelöst werden.« Im Berliner Landesparlament gehörte Reinhard Schult zur Gruppe Neues Forum/Bürgerbewegung, die es in der 12. Wahlperiode neben der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gab. Dass es sich hierbei um eine Abspaltung gehandelt habe, hat er jedoch immer bestritten. Für Reinhard Schult waren Bündnis 90/Die Grünen die Abspaltung - vom Neuen Forum, jedenfalls in Ostberlin. Er war als Vertreter der Bürgerbewegung ins Parlament gewählt worden und blieb es.

Im Übrigen sah er sich auch nie als »Bürgerrechtler«. Das sei ein vom Westen aufgedrückter Begriff. »Bürgerrechtler ist mir zu individuell und auf seine Rechte bezogen. Wir haben unter anderem gekämpft für Reisefreiheit, und die Bürgerrechtler protestieren nicht, wenn Menschen an den europäischen Grenzen ertrinken oder beim Abbau der Demokratie und des Sozialstaats.« Davon aber ist auf den Internetseiten der Havemann-Gesellschaft keine Rede. Sein Protest gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien im Jahr 1999 wird zwar am Rande erwähnt (Reinhard Schult gehörte damals zu jenen ehemals DDR-Oppositionellen, die in einer öffentlichen Erklärung die Soldaten der Bundeswehr zur Verweigerung des Kriegseinsatzes aufforderten). Dass er aber nach 1990 eine dezidiert linke Politik betrieben hat, ist dort keiner Erwähnung wert.

Bernd Gehrke, sein langjähriger Mitstreiter, erinnert daran, dass für Reinhard Schult die rassistischen Pogrome in Ostdeutschland prägend in seinem Engagement gegen die Abschaffung des Asylrechts waren. Doch in den allermeisten Nachrufen lesen wir davon nichts. Das politische Leben des Reinhard Schult wird auf die Jahre im SED-Staat reduziert oder auf die Aufarbeitung desselben.

Reinhard Schult rief zu den Montagsdemos auch im Jahr 1991 auf, zum Protest gegen die Politik der Treuhand. Im Jahr 1992 unterstützte er die Gründung der Ostdeutschen Betriebsräte-Initiative, die sich gegen die Privatisierungspolitik der Treuhand wehrte und versuchte, die DGB-Gewerkschaften zu branchenübergreifenden Widerstandsaktionen zu bewegen. Er solidarisierte sich mit den hungerstreikenden Kalikumpeln in Bischofferode und wurde später aktiv im Berliner Sozialforum.

Tatsächlich strebte Reinhard Schult in diesen Jahren ein neues linkes Sammlungsprojekt an, dessen Keimzelle das Neue Forum sein sollte. Viele der linken Ex-Grünen aber, beispielsweise die Brüder Harald und Udo Wolf, sahen in der angeschlagenen PDS eine Perspektive. Und nicht nur sie. Erinnert sei an die mittlerweile verstorbenen DDR-Oppositionellen Marion Seelig und Bernd Holtfreter, die viele Jahre Mitglieder der PDS- beziehungsweise Linksfraktion im Abgeordnetenhaus waren. Was nicht heißen soll, dass ein solches Projekt in Berlin keine Chance gehabt hätte. In Potsdam ist DIE aNDERE seit vielen Jahren in der Stadtverordnetenversammlung vertreten; die linke Wählergruppe erreichte bei der letzten Wahl 2019 immerhin 10,4 Prozent.

Reinhard Schult, der zwei erwachsene Töchter hinterlässt, litt an einer neurodegenerativen Krankheit, die ihm schon vor Jahren die Fähigkeit zum Sprechen nahm und seine Bewegungen stark einschränkte. Als er krank wurde, lesen wir im digitalen Kondolenzbuch, »kümmerten sich Freunde darum, dass er von den Ärzten untersucht wird. Sie fuhren mit ihm von einer Klinik in die nächste. Sein Zustand verschlechterte sich zusehends«. Unerwähnt bleibt die Frau, die ihn 24 Stunden am Tag pflegte und vor der Öffentlichkeit abschirmte: Ina Messer, die zwei Jahrzehnte seine Lebenspartnerin war. Wenn Freitagmittag in der Zionskirche am Prenzlauer Berg seiner in einer Trauerfeier gedacht wird, findet hoffentlich auch sie ein wenig Trost.

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