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Mit dem Grundgesetz zur Revolution
In der Wohnungsfrage landete die außerparlamentarische Linke in Berlin jüngst scheinbar einen großen Coup. Aber kann der Volksentscheid zur Vergesellschaftung ein Schritt in Richtung einer Gesellschaft sein, die nicht mehr kapitalistisch organisiert ist?
Die Kampagne Deutsche Wohnen & Co enteignen schnitt bei den Wahlen zum Bundestag und dem Berliner Abgeordnetenhaus im September diesen Jahres mit überragendem Erfolg ab. Bereits vorher gab es eine ideologisch aufgeladene Debatte um den angezettelten Volksentscheid über die Vergesellschaftung großer Immobilienunternehmen. Während die Gegner*innen sich bei einer Mehrheitsentscheidung der Berliner Bevölkerung für die Vergesellschaftung im Übergang in einen Sozialismus wähnten und bei Twitter mehr oder minder ernsthaft ihre Auswanderungspläne posteten, sahen die Befürworter*innen einem Erfolg des Volksentscheides frohlockend entgegen: So könne dem neoliberalen Kapitalismus ein harter Schlag verpasst und der Weg und das Bewusstsein für eine Art Gemeinwirtschaft gelegt werden, die nicht nur den Immobilienmarkt, sondern perspektivisch auch andere Gegenstände der »Daseinsvorsorge« wie Gesundheit oder Verkehr dem Markt entzieht und denen zur Verfügung stellt, die diese nutzen.
Dabei liegen eigentlich beide Seiten am Ende falsch. Schließlich erinnert der Volksentscheid die Berliner Regierung lediglich an ihre eigenen sozialstaatlichen Ziele, insbesondere durch den stetigen Verweis auf das Grundgesetz der Bundesrepublik. Das dürfte auch der Grund des Erfolges der Kampagne sein, deren Befürwortung bis in die Sphären der Berliner Regierungsparteien zu finden ist - die immerhin die Förderung des Sozialstaates in das eigene Parteiprogramm geschrieben haben. Insbesondere der stetige Bezug von Deutsche Wohnen & Co. enteignen auf die geltende Rechtslage zeigt: Die Gegner*innen der Kampagne müssen keine Angst vor einer DDR haben. Und die Befürworter*innen sollten sich derweil im Klaren sein, dass ihre vorgetragene Vision einer »Gemeinwirtschaft« entweder gar nicht im Gesetz vorgesehen ist, auf das sie sich berufen, ja durch dieses sogar verboten ist - oder dass sie lediglich das alte sozialdemokratische Ideal einer Marktwirtschaft wiederaufleben lassen. Leider interessiert sich dieses Ideal nicht dafür, wie und warum in unserer Gesellschaft systematisch Armut (und Reichtum) produziert wird und mildert letztlich nur die kapitalistischen Exzesse ab, damit die Gesellschaft nicht durch soziale Konflikte auseinander fliegt. Doch der Reihe nach!
Zwischen 1995 und 2005 verkauft der Berliner Senat fast 200 000 Wohnungen der städtischen Wohnungsbaugesellschaften, unter anderem an den Immobilienkonzern Deutsche Wohnen. Von den 482 000 Wohnungen in Ost- und Westberlin im Jahr 1989 sind 2005 noch 273 000 Wohnungen übrig - ziemlich genau die Hälfte des Bestandes.
2019 gründet sich die Bürgerinitiative Deutsche Wohnen & Co enteignen. Die Idee für die Kampagne entsteht im Kontext wohnungspolitischer Organisierungen wie der Mietergemeinschaft Kotti & Co am Kottbusser Tor in Kreuzberg oder dem Bündnis Zwangsräumung verhindern. Das Ziel von Deutsche Wohnen & Co enteignen ist von Beginn an, einen Volksentscheid über die Enteignung und Vergesellschaftung privater Immobilienkonzerne zu erwirken. Namensgebend ist die Deutsche Wohnen mit etwa 110 000 Wohnungen. Seitdem Vonovia die Deutsche Wohnen übernommen hat, ist Vonovia die größte Vermieterin in Berlin. Im Visier sind aber auch Konzerne wie Akelius oder TAG Immobilien. Insgesamt sollen 243 000 der rund 1,5 Millionen Berliner Mietwohnungen in eine Anstalt öffentlichen Rechts überführt werden.
Beim Volksentscheid am 26. September 2021 stimmen mehr als eine Million Berliner für die Umsetzung der Kampagnenziele: Etwa 59,1 Prozent der gültigen Stimmen votieren für die Enteignung großer privater Wohnungsunternehmen. 40,9 Prozent lehnen das Vorhaben ab.
Die künftige Berliner Regierungskoalition ist hiermit gebunden, die Vergesellschaftung umzusetzen. SPD, Linkspartei und Grüne beauftragen aber erst einmal eine »Expertenkommission«, die »Möglichkeiten, Wege und Voraussetzungen der Umsetzung« des Volksentscheids prüfen soll. nd
Erst Enteignung, dann Gulags?
Bereits im April 2019 proklamiert der anonyme Autor Don Alphonso in der Zeitung »Die Welt«: »Wer Enteignung sagt, muss auch Gulag sagen.« Das klingt drastisch und mag der für derartige Hetze bekannten Springer-Presse entnommen sein. Aber auch im Deutschlandfunk erfährt man von der Journalistin Anja Nehls, »allein der Begriff ›Enteignen‹ macht mir Angst. Geschichtlich gesehen ist dabei nämlich selten etwas Gutes herausgekommen. Russland enteignet nach der Revolution die gesamte Bourgeoisie, die Nazis jüdisches Eigentum und die DDR Grund und Boden.« Was sie mit »selten« meint, warum also Enteignung womöglich doch auch einen anderen Hauch als Unrechtsregime haben kann, führt Nehls nicht aus. Durch den Dreiklang Russland - Nationalsozialismus - DDR soll hierzulande jedes weitere Nachdenken über die private Bewirtschaftung von Immobilieneigentum abgewürgt werden: über die Zwecke, die hier verfolgt werden, sowie die Folgen für diejenigen, die mangels Eigentum darauf angewiesen sind, zur Miete zu wohnen. Für den CDU-Politiker und Bundestagsabgeordneten Dr. Jan-Marco Luczak - laut dem Podcast »Lage der Nation« das »Gesicht der Vermietenden« - ist ohnehin »klar: Wenn der Staat das Eigentum nicht mehr schützt, verlieren wir individuelle Freiheitsräume und gehen den Weg in eine unfreie Gesellschaft. Das will ich nicht!« (Twitter)
Diese exemplarisch zitierten Gegner*innen der Vergesellschaftung von Wohnraum ignorieren mit ihrer Beschwörung von unfreien Gesellschaften einen Einwand, den Deutsche Wohnen & Co enteignen ebenso konsequent wie zutreffend vorgetragen haben: den Artikel 15 des Grundgesetzes - immerhin eine Vorschrift derselben deutschen Verfassung, die von Vergesellschaftungsgegner*innen an anderer Stelle über den Klee gelobt wird. »Danke liebes Grundgesetz und alles Gute zum Geburtstag - mögest Du mit Deinen klaren Werten und Prinzipien unserem Land noch lange Richtung und Orientierung geben!«, twittert wiederum Luczak im Mai 2020.
Dabei muss das schon eine ulkige Verfassung sein, der ihre Gründer ein Einfallstor für Sowjets, Nazis und DDR-Fans hinzugefügt haben! Scherz beiseite - es kann einfach nicht stimmen, dass »die beste Verfassung, die Deutschland je hatte« (Winfried Bausback, CSU) und »Schutzschild gegen verfassungsfeindliche Strömungen« (Stephan Harbart, Präsident des Bundesverfassungsgerichts) gleichzeitig ein probates Mittel für Verfassungsfeinde sein soll, die per Enteignung in Deutschland den Sozialismus einführen wollen. Und so ist es auch nicht.
Gewährleistung des Eigentums
»Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet«, so beginnt Artikel 14 des Grundgesetzes, um fortzufahren mit der Konkretisierung, »Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.« Will sagen: Was zu einem bestimmten Zeitpunkt als Eigentum gilt und was nicht, bestimmen die souveränen Vertreter*innen der Staatsgewalt höchstselbst. Dies erteilt folgender liberaler Lebenslüge eine harte Absage: Von einer gleichsam vorstaatlichen Ordnung, die Rechte wie eben das Eigentum in Stein meißelt, kann in der Bundesrepublik Deutschland keineswegs die Rede sein. Und da die Regierenden in bestimmten Fällen eben auch eine Enteignung für sinnvoll befinden können, hält der Artikel 14 (wenn auch einschränkend) weiter fest: »Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt.« Das bedeutet, privater Gebrauch des Eigentums kann genau dann begrenzt werden, wenn staatliche Interessen es erfordern. Regelmäßig Gebrauch gemacht wird davon unter anderem im Baurecht, wenn zum Beispiel ein öffentliches Grundstück durch eine Straße erschlossen werden soll, die über privaten Grund führt. In solchen Fällen erfolgt dann einen Enteignungsbeschluss.
Durch die Garantie des Eigentums setzt der demokratische Staat währenddessen auch den Rahmen seiner Wirtschaftsordnung, der freien Marktwirtschaft. Ob Zahnbürste, Fahrrad, Industrieunternehmen, Kreditinstitut oder Wohnraumimmobilie - das Eigentum an allen Dingen wird unterschiedslos garantiert und jede*r Eigentümer*in ist jeweils im Recht, andere von der Benutzung der eigenen Güter auszuschließen. Wirtschaftlich produktiv ist dieses Prinzip freilich nicht an dem Punkt, wo ich andere von der Nutzung meines Deos ausschließe, wer mag das auch dem anderen wegnehmen. Sondern relevant für die Profitakkumulation wird es, wenn ich Eigentum an den Mittel besitze, die andere benötigen, um ihr Leben zu sichern - weil sie selbst über diese Mittel eben nicht verfügen. Besonders nützlich für ein gewinnbringendes Geschäft in dem Sinne sind die später in Artikel 15 genannten speziellen Eigentümer »Grund und Boden« sowie »Produktionsmittel«: Geld verdienen lässt sich bei letzteren durch günstig kalkulierte Arbeitnehmer*innen, bei ersteren durch Mieter*innen in den auf diesem Grund und Boden gebauten Immobilien.
Der ideelle Gesamtkapitalist
Das ist die Ordnung, nach der unsere Gesellschaft funktioniert, und daran ändern auch die bereits zitierten Grundgesetz-Vorschriften nichts - weder der Absatz zur Enteignung noch der von Deutsche Wohnen & Co. enteignen ins Feld geführte Grundgesetz-Artikel 15 über Vergesellschaftung. Dieser hält fest, »Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.« Anstatt die Privatwirtschaft infrage zu stellen, geben die Gründer der Bundesrepublik und ihre politischen Nachfolger*innen hier nämlich folgendes zu Protokoll: Die einzelne Privateigentümer*in, die auf Gewinn und Wachstum hofft, kann punktuell im Widerspruch zur Funktionalität der staatlich favorisierten Wirtschaftsweise stehen. Und die ist der demokratischen Regierung im Zweifelsfall wichtiger die als private Gewinnkalkulationen des einzelnen Kapitalisten. Ein Beispiel: Eisen und Kohle sorgen als Rohstoffe für immense Gewinne von Industrie- oder Energieunternehmen. Will ein Staat aber Krieg führen, benötigt er diese Rohstoffe für seine Kriegswirtschaft und wird sie auch entsprechend für sich nutzen. Keine Staatsgewalt würde sich deshalb gänzlich von den Privatinteressen der Unternehmer*innen abhängig machen. Gleiches gilt für Grund und Boden: Beides spielt für vielerlei gewerbliche Geschäftskalkulationen eine wichtige Rolle, wenn allerdings eine Autobahn für Lkw, Panzer oder pendelnde Volkswagen gebaut werden muss, wird der Boden kurzerhand durch den Staat enteignet (oder, wie es etwa im Kriegszusammenhang eher heißt, beschlagnahmt).
Wichtig zu betonen ist dennoch: Enteignungen sollen die Ausnahme von der ansonsten geltenden privaten Profitmacherei sein, nicht die Regel. Denn, wie der Wirtschaftsminister Peter Altmaier von der CDU sagt: »Der Staat ist ein lausiger Unternehmer.«
Wohnen muss bezahlbar sein
In Bezug auf Wohnraum kannte man eine solche Methoden der »Beschlagnahmung« bisher nicht, hier setzten vorherige Regierungen auf sozialen Wohnungsbau in Staatshand. Die Logik ist aber die gleiche: Die private Kalkulation der Eigentümer*innen von Immobilien behindert immer wieder die staatlich gewollte, wachsende Marktwirtschaft und bedroht den sozialen Frieden. Deshalb bringt der Staat neben den eigens gebauten Wohnungen noch jede Menge rechtliche Instrumente auf, um »Wohnen bezahlbar« zu machen. Denn dass sich alle Menschen ein Grundbedürfnis wie das Wohnen leisten können, ist in der Marktwirtschaft überhaupt keine Selbstverständlichkeit! Zum Beispiel lässt sich mit Immobilien als Gewerbe oder Luxuswohnung ein deutlich einträglicheres Geschäfts erzielen als mit schnöden Wohnräumen für kleine Leute ohne großes Geld. Daher wird billiger Wohnraum zum einen gar nicht vorzugsweise gebaut oder bewirtschaftet, zum anderen orientieren sich die Mieten eben nicht am Geldbeutel der Mieter*innen, sondern an der höchsten erzielbaren Miete - also nach oben.
Dazu kommt, dass die Mieter*innen in der Regel ja auch ihre Einkommen nicht selbst bestimmen. Sondern sie sind auch in diesem existenziellen Punkt einer unternehmerischen Geschäftskalkulation ausgeliefert, die die Löhne möglichst niedrig hält. Und genau hier entstehen dann in der kapitalistisch organisierten Gesellschaft ganz systematisch Probleme: Produktive Arbeitnehmer*innen können ihre Wohnungen nur unter großen Einschnitten oder gar nicht mehr bezahlen, können sich aus Geldmangel keine Kompensationen vom Alltag wie etwa einen Urlaub leisten, sind von Umzieherei und/oder Pendelei gestresst, werden depressiv oder gar obdachlos. (Wie viel die Menschen aushalten oder sich bieten lassen, ist dabei freilich Gegenstand sozialpolitischer Aushandlung - derzeit ist es jedenfalls recht viel.)
Alle diese sozialen Verwerfungen sind nicht nur schlecht für die Menschen, sondern aus staatlicher Sicht vor allem schlecht für die Gewährleistung der produktiven Geschäftemacherei mit der Bevölkerung. Und deshalb tritt der Staat solchen Dysfunktionalitäten eben mit dem sozialen Mietrecht entgegen: in Form von Wohngeld, Kostenübernahme der Unterkunft bei Hartz IV, Mietpreisbremse, Mietspiegel etc. Anders formuliert, die Regierung subventioniert die marktwirtschaftlichen Kapitäne (sprich, Kapitalist*innen) nach Kräften, damit die mit ihrem Personal weiterhin so niedrig wie möglich kalkulieren können.
Gut gemeinte Erinnerung
Bei all dem ist es natürlich trotzdem nicht bloß »irgendein Eigentümerwechsel« (Franziska Giffey), wenn aus dem Immobilienkonzern Akelius eine Genossenschaft wird, in der Leute zu aktuell mietspiegelkonformen Mieten leben anstatt 16 Euro pro Quadratmeter zu zahlen. Man sollte sich nur nichts vormachen, wie es Vertreter*innen der Enteignungs-Kampagne im Januar diesen Jahres in dem Podcast »Klassenfrage« tun: Eine Vergesellschaftung würde weder die »Abschaffung des privaten Mietmarktes« noch die »Übertragung« der Eigentumsentziehung »auf andere wichtige Bereiche« wie »Gesundheit« oder »Verkehr« bewirken. Beides wären grundlegende Eingriffe, die - Überraschung! - eben tatsächlich auch verboten sind. Anschaulich wird das zum Beispiel in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1994, das sich mit der Mietpreisbindung in den neuen Bundesländern befasst. Das höchste Gericht entschied, der Staat könne zwar über »Inhalt und Schranken des Eigentums« bestimmen. Das bedeute aber nicht, dass er dabei »freie Hand« hätte. Vielmehr dürfe der »Kernbereich der Eigentumsgarantie ... nicht ausgehöhlt werden.«
Mit anderen Worten: Marktwirtschaft, und damit auch der Profit mit den Immobilien, hat eine »Ewigkeitsgarantie« im selben Grundgesetz, das laut Deutsche Wohnen & Co. enteignen zur Waffe gegen diese Profitwirtschaft taugen soll. In dem Sinne kann der Beitrag der Kampagne nicht mehr und nicht weniger sein als eine gut gemeinte sozialpolitische Erinnerung an die Regierenden, die mit Sozialpolitik derzeit in der Tat nicht viel am Hut haben wollen. Ein »Schlag gegen den Kapitalismus«, wie es die Aktivist*innen beschreiben, wäre eine solche Vergesellschaftung deshalb nicht.
Zum Weiterlesen: https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/grundeigentum-wohnungsmarkt
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