Verdunkler

Vom Nichthandeln bis zur Sabotage: Markus Mohr und Daniel Roth haben den Verlauf der polizeilichen Ermittlungen nach den NSU-Morden analysiert

Ein quellen- und fußnotengesättigtes Werk stellten Daniel Roth und Markus Mohr am Dienstagabend in Berlin vor. Zugleich ist das Buch über »Wahrheit und Lüge im NSU-Komplex« erkennbar im Zorn geschrieben. Der dürfte bei den Autoren im Laufe ihrer Forschungen stetig gewachsen sein, obwohl vieles in Sachen betont nachlässiger Ermittlungsarbeit nach den NSU-Verbrechen natürlich lange bekannt ist. Mohr und Roth haben sich bei ihrer Untersuchung auf die Tätigkeit der beteiligten Länderpolizeien sowie des Bundeskriminalamtes (BKA) seit dem ersten Mord des NSU an dem Blumenhändler Enver Şimşek am 11. September 2000 nahe Nürnberg konzentriert.

Die vielen kleinen Details, die etwa aus den Pressemitteilungen des Polizeipräsidiums Mittelfranken zu den anfangs Ceska-Mordserie genannten Tötungsdelikten oder aus Protokollen parlamentarischer Sitzungen stammen und die die Autoren akribisch ausgewertet haben, erweitern das bisherige Bild beträchtlich.

Daniel Roth betonte während der Veranstaltung, zu der die Rosa-Luxemburg-Stiftung eingeladen hatte, man habe versucht, strikt die Perspektive der Ermittler einzunehmen, ihnen gerecht zu werden: Was konnte man objektiv zu welchem Zeitpunkt wissen, was konnte und was hätte man nach gängigen Standards wann in die Wege leiten müssen? Das Urteil fällt nach Prüfung der Unterlagen von zwei NSU-Untersuchungsausschüssen des Bundes sowie der Gremien der Landtage von Hessen und Bayern und den Akten des Münchner Prozesses gegen Beate Zschäpe und einige Unterstützer des »NSU-Trios« vernichtend aus.

René Heilig wirft einen Blick die Aufarbeitung der letzten Jahre in den Geheimdiensten »Auf Untergrund folgte Unterwanderung«

An rechtsradikale Täter habe vor den letzten beiden Morden an Migranten in Dortmund und Kassel 2006 niemand auch nur denken wollen. Stattdessen hätten die Ermittler »mit unglaublicher Härte gegen das Umfeld der Toten« reagiert, konstatiert Roth. Die Familien, meint Mohr, hätten den »Fehler« gemacht, der Staatsgewalt zu vertrauen. Sie hätten den Beamten gegenüber sogar frühere kleine Delikte der Ermordeten offenbart, um die Ermittlungen zu erleichtern.

Zugleich aber hätten die Medien immer wieder, basierend auf Darstellungen der Polizei, das Bild der nicht in »unserer Gesellschaft« angekommenen Ausländer gezeichnet, die die Arbeit der Polizei durch ihre »zugeknöpfte« Art boykottierten. Der Verdacht gegen die Familien, Freunde und Bekannten der Opfer war stets präsent. Ohne jeden Beleg ging man davon aus, dass die Ermordeten, ob bewusst oder nicht, Kontakte zur »türkischen Drogenmafia« gehabt hätten, oder dass sie aufgrund nicht gezahlter Schutzgelder getötet wurden.

Die einzigen Indizien dafür waren Aussagen von Zeugen, die etwa angaben, »einen dunklen Mann« oder südländisch aussehende Männer am Tag vor dem Mord beobachtet zu haben. Übereinstimmende und unabhängig voneinander getätigte Aussagen von Zeugen, die an verschiedenen Tatorten zwei große, junge, sportliche und hellhäutige Männer zum Tatzeitpunkt dort oder in dessen Nähe beobachtet hatten, teils auch, dass sie diesen mit Fahrrädern verließen, verschwanden in den Aktenordnern.

Immerhin: Nach der Ermordung von Mehmet Kubaşık in Dortmund und Halit Yozgat in Kassel am 4. und 6. April 2006 ging Alexander Horn, Profiler des bayerischen Landeskriminalamtes (LKA), in einer sogenannten operativen Fallanalyse erstmals von zwei »missionsgeleiteten« Tätern aus und hielt eine »gewisse Nähe« zur rechten Szene für wahrscheinlich. Horns Kollegen vom BKA hielten das aber für abwegig und forderten ein Gegengutachten an. Dennoch hätten Beamte nach Horns Analyse zumindest ein paar Monate im rechten Milieu in zwei Postzustellungsbezirken in Nürnberg ermittelt, sagt Mohr. Dann aber habe der damalige hessische Innenminister Volker Bouffier (CDU) dafür gesorgt, dass in dieser Richtung nicht weiter nachgeforscht wurde. Andreas Temme, Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes, den etliche Zeugen zum Tatzeitpunkt im Internetcafé von Halit Yozgat gesehen hatten, war schnell wieder auf freiem Fuß und wurde danach gut vor weiteren Nachfragen abgeschirmt.

Lesen Sie auch »Nicht alle wollen gedenken« von Hendrik Lasch

Daniel Roth findet, angesichts des Gesamtbildes sei es verharmlosend, von »Versagen«, »Kompetenzwirrwar« oder »Pannen« zu sprechen. Die Behörden seien auch nicht unterbesetzt gewesen, wie es vielfach kolportiert worden sei. Auch hätten die beteiligten Landeskriminalämter und das BKA sich regelmäßig ausgetauscht, seien gut vernetzt gewesen. Im Vorwort ihres Buches schreiben die Autoren, mit Vokabeln wie den genannten müssten als »Beruhigungs- und Narkotisierungsmodule verstanden werden«, mit denen Nichthandeln und einseitiges Ermitteln »verdunkelt« werden solle. Die Autoren meinen, auf die Arbeit aller Polizeien treffe letztlich die Einschätzung zu, die die Vorsitzende des Thüringer NSU-Untersuchungsausschusses, Dorothea Marx (SPD), bei der Vorstellung von dessen Abschlussbericht 2014 für die Behörden des Freistaats traf. Sie sprach damals vom Verdacht »gezielter Sabotage und bewussten Hintertreibens«.

Die Linke-Bundestagsabgeordnete und Expertin für die militante Rechte Martina Renner konstatierte mit Blick auf die Befunde des Buches, dass sich an den Strukturen, die die Aufklärung damals behindert haben, wenig geändert hat. Im Umgang mit Rechtsterrorismus werde spätestens seit dem Münchner Oktoberfestattentat beharrlich von Einzeltätern ausgegangen, deren Taten als »Überreaktion« auf persönliche Krisen dargestellt würden. Immer wieder wehrten sich Behörden »gegen die Vorstellung, dass Neonazis bundesweit vernetzt und planvoll vorgehen können«. Auch bei fünf Brandanschlägen auf migrantische Lokale im Umland von Bremen von 2018 bis 2020 habe man keine rechts motivierte Serie sehen wollen, so Renner.

Markus Mohr/Daniel Roth: Stärkere Strahlkraft.Wahrheit und Lügen in den polizeilichen Ermittlungen im NSU-Komplex 2000-2011, Oktober 2021, 380 Seiten, limitierter Eigendruck. Das Buch ist derzeit noch nicht im Handel erhältlich.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.