Verschuldung ohne Ende

Der Philosoph Walter Benjamin schrieb vor 100 Jahren über den »Kapitalismus als Religion«. Seine Thesen sind heute gültiger denn je

  • Julia Lis und Michael Ramminger
  • Lesedauer: 7 Min.

Das berühmte Fragment »Kapitalismus als Religion« von Walter Benjamin ist dieses Jahr 100 Jahre alt geworden. In dem nur zwei Seiten umfassenden Text schrieb der kommunistische und jüdische Philosoph, dass im Kapitalismus »eine Religion zu erblicken (ist), d.h. der Kapitalismus dient essenziell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben.« Nun darf diese Behauptung nicht so missverstanden werden, dass der Kapitalismus bloß »religiöse Züge« habe, also eine gewisse Sakralität oder eine religiöse Ästhetik übernommen hätte.

Nein, die These von Walter Benjamin ist, dass der Kapitalismus durch und durch eine Religion sei, seinem Wesen nach. Dazu muss man wissen, dass Religionen nie nur Ideologie oder falsches Bewusstsein, sondern eben auch Praxis sind. Das Verhältnis von Theorie und Praxis, von Basis und Überbau ist also komplexer als oftmals vermutet. Benjamin bezeichnet den Kapitalismus als Religion, weil er im Kern mythologisch sei: Es geht um die endlose Spirale der unbewussten Praxis von Investition - Gewinn - Investitionskredit - Gewinn - ad infinitum.

Religion und Mythos

Wie schon Karl Marx in den »Grundrissen zur Kritik der politischen Ökonomie« sagte, geht es im Kapitalismus notwendig um die unendliche Bewegung der Verwertung des Werts. Das ist die Wiederholung des ewig Gleichen unter dem Deckmantel von Innovation, Erneuerung, Erfindung und Fortschritt. Benjamin schrieb, dass es in der kapitalistischen Moderne gerade verborgen hinter dem Zwang zum Neuen immer um Wiederholung, immer wieder um das Gleiche geht: »Das konstituiert die Ewigkeit der Hölle.«

Diese unsichtbare Logik und Mythologie trägt keine Perspektive des Entrinnens in sich, das ist die düstere Prognose Benjamins. »Keine Reform, sondern Zertrümmerung des Seins«, wie er es in »Kapitalismus als Religion« ausdrückt. Marx und Benjamin sind sich an dem Punkt einig, dass der Kapitalismus auf die Zerstörung seiner natürlichen Grundlagen und der Menschheit überhaupt hinausläuft. Eine prophetische Behauptung, deren Wahrheit sich heute nicht nur in Klimawandel oder menschengemachten Pandemien erweist, sondern ebenso in dem Wahn, dieser Logik durch Elektromobilität und Digitalisierung immanent entgehen zu können.

Hinter der mythologischen und religiösen Gestalt verschwindet auch ein weiteres kapitalistisches Strukturmoment: »Der Kapitalismus ist vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus« schreibt Benjamin. Er funktioniert auf der Basis einer doppelten Verschuldungslogik. Da ist zum einen die ökonomische Verschuldungsnotwendigkeit, die ihm notwendig eingeschrieben ist, gleich ob es sich um Investitionskredite, Konsumkredite oder Staatsverschuldung handelt. Der ewige Zwang, über seine quantitative Schranke hinaus zu expandieren, ist deren Ursache. Da ist zum anderen aber auch eine ganz andere Verschuldungsstruktur, die die Menschen hoffnungslos in ihren Bann zieht: Die ökonomische Verschuldungslogik hat ihr Gegenstück in der individuellen Existenz. Es ist das Schuldbewusstsein des »nie den gesellschaftlichen Anforderungen-genügen-Könnens«, die Selbstbezichtigung, kapitalistischen Verwertungsbedingungen nicht zu entsprechen und ihnen trotzdem verfallen zu sein. Es ist die ewige Wiederholung der menschlichen Unterwerfung unter ästhetische und gesellschaftliche Normen. Und gleichzeitig ahnt man, dass aus dieser Unterwerfung keine Rettung kommt, sondern sie tragisch »bis zum Ende durchgehalten werden« muss.

Die Macht der Moral

Der Kapitalismus als Religion ist also nicht amoralisch, wie manchmal behauptet wird, sondern geradezu hypermoralisch. Er kennt keine Ethik, denn dem Kapitalismus kann keine andere Norm von außen gesetzt werden, die seinen inhärenten Verwertungszwang infrage stellen könnte. Aber er kennt sehr wohl eine Moral, im Sinne der Ansprüche an das Individuum, welche dieses zu erfüllen hat. Dazu bedarf es der permanenten Selbstdisziplinierung und Selbstoptimierung. Denn in der kapitalistischen Logik gibt es kein »Genug« und damit kann auch den Ansprüchen kapitalistischer Moral niemand jemals genügen. Wie dem ökonomischen Wachstum die immer größere Verschuldung entspricht, so müssen auch die Einzelnen das Humankapital, das sie selbst sind, grenzenlos optimieren. Und weil man an dieser unendlichen Spirale der Selbstoptimierung zwangsläufig scheitern muss, wächst zugleich auch das das Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeit und Schuldigkeit vor den gesellschaftlich zwingenden Herausforderungen.

Friedrich Nietzsche, auf den sich Benjamin in »Kapitalismus als Religion« bezieht, hatte in seiner »Genealogie der Moral« den Ursprung der Moral in gesellschaftlichen Verhältnissen gesehen, die auf Verträgen und Tauschverhältnissen beruhen, in denen Schuld vergolten werden muss. Wenn dies mit Geld nicht möglich ist, steht der Schuldner mit seinem Leben dafür ein. Das Bewusstsein der Schuld wird mit der Zeit internalisiert: Der Mensch fühlt sich schuldig, weil er den Verträgen, die den gesellschaftlichen Normen zugrunde liegen, nicht gerecht werden kann. Der äußeren, strafenden Instanz bedarf es dabei immer weniger, das repressive Moment der gesellschaftlichen Struktur ist so weit verinnerlicht, dass der innere Zwang zu Selbstkontrolle und die Scham für das eigene Versagen die strafende äußere Instanz weitgehend ersetzen können. Den Neoliberalismus bezeichnete Maurizio Lazzarato in diesem Sinne als »Fabrik des verschuldeten Menschen«.

Das Schuldbewusstsein durchdringt die Subjekte in solchem Maße, das sie ihm tragischerweise auch dort kaum entkommen, wo die katastrophalen Auswirkungen des Kapitalismus durchaus erkannt werden: in den sozialen Bewegungen und in der gesellschaftlichen Linken. Nicht zufällig ist der Diskurs der Klimabewegung, der Critical Whiteness oder der Linken über Corona hypermoralisch. Vielfach steht nicht die Analyse und Kritik der politischen, ökonomischen und ideologischen Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft im Vordergrund, sondern die Frage nach der Moral, dem richtigen individuellen Verhalten.

Doch diese Individualisierung der Verantwortung bleibt »Sklavenmoral« im Sinne Nietzsches, denn sie bleibt im Ressentiment stecken. Ressentiments aber resultieren aus einer Position der Schwäche, die Ohnmacht wird hier moralisch »belohnt« und findet keine Perspektive einer wirklichen Befreiungstat mehr. Der Umgang mit der eigenen Schuld droht dann selbstzerstörerisch zu werden, indem die eigenen Unzulänglichkeiten, das nicht hinlänglich sensible Verhalten oder Sprechen permanent zum Thema gemacht werden. Dahinter verschwindet sowohl der tatsächliche Andere, das Gegenüber, als auch die Strukturen, die Diskriminierung und Unterdrückung erst bedingen.

Manchmal scheint es sogar einfacher, sich der staatlichen und polizeilichen Repression zu entziehen, als jenen repressiven Strukturen von Selbstoptimierung und Disziplinierung, die wir in der kapitalistischen Gesellschaft internalisiert haben. Ganz im Sinne von Michel Foucaults Konzept der »Pastoralmacht« wird unser Leben dann von uns selbst kontrolliert, überwacht und optimiert, unter fachkundiger Anleitung entsprechender Berater*innen und Trainer*innen.

Sprung aus der Katastrophe

Für Walter Benjamin war die Problematik der endlosen Verschuldungsprozesse kaum mit herkömmlichen Mitteln zu lösen. Die beiden großen Gegenentwürfe seiner Zeit waren für ihn zum Scheitern verurteilt: Einerseits Nietzsches Versuch, auf Nihilismus und Atheismus zu hoffen, die nicht auf Umkehr und Buße setzen, sondern eine grundsätzliche Auflösung des Schuldzusammenhangs propagieren - der Übermensch, endlich frei für sich selbst. Andererseits der Sozialismus, der nach Benjamin keine Rettung bringen wird, solange er als Emanzipationsbewegung aus dem Kapitalismus heraus gedacht wird, also als Krönung dessen historischer Dynamik, so wie es auch manchmal in den Ideen der sozial-ökologischen Transformation aufscheint.

Benjamin setzt stattdessen auf ein anderes Moment, das er der jüdischen Tradition entnimm: das Messianisch-Apokalyptische. Das messianisch-apokalyptische Denken ist nicht einfach versponnene Katastrophenverliebtheit. Es ist vielmehr die Überzeugung, dass die hiesigen Verhältnisse ein Ende haben müssen, dass die Geschichte unterbrochen werden muss, weil aus ihrem einfachen Fortschreiten nichts Besseres und nichts Anderes als nur die Katastrophe zu erwarten ist. Aus diesem Bruch ergibt sich zugleich die Relativierung der herrschenden Gesetze und Logiken. Geschichte, zumal kapitalistische Geschichte, verliert ihren mythologischen und naturgeschichtlichen Charakter. Das wäre das Ende der Geschichte der Verschuldung von Mensch und Natur. Die Geschichte des »Anders geht es nicht« muss ein Ende haben, wenn diese Welt und diese Menschen eine Zukunft haben wollen. Ist das angesichts von Klimawandel und all den anderen Katastrophen nicht eigentlich doch eine ganz vernünftige Vorstellung?

Neuerscheinung zum Thema: Kuno Füssel und Michael Ramminger (Hg.): Kapitalismus. Kult einer tödlichen Verschuldung. Walter Benjamins prophetisches Erbe. Edition ITP-Kompass, 364 S., br., 23 €.

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