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Staat und Revolution

Domenico Losurdo hat ein Buch über »westlichen Marxismus« geschrieben. Dem wirft er vor, eurozentristisch zu sein und die weltweiten Befreiungskämpfe des 20. Jahrhunderts nicht berücksichtigt zu haben. Doch Losurdos Argumentation offenbart einige Probleme

  • Dimitra Alifieraki
  • Lesedauer: 8 Min.

Westlicher Marxismus, der ursprünglich von dem französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty eingeführte Begriff erinnert an die 1976 erschienene und viel diskutierte Abhandlung »Über den westlichen Marxismus« des britischen Historikers Perry Anderson. Anderson thematisierte dort den ab dem Ersten Weltkrieg begonnenen Auftritt einer Reihe von marxistischen Ansätzen, welche die Zweite Internationale und den Realsozialismus kritisch betrachteten und deren gemeinsamer Nenner, Anderson zufolge, ein praxisferner, akademischer Charakter sei. In dieser Distanz der Autor*innen von der politischen Praxis - eine Annahme, die allerdings die Biografien mehrerer Autor*innen widerlegen - sah Anderson das Symptom der Niederlage der Arbeiterbewegung nach der gescheiterten Übertragung der Oktoberrevolution auf Deutschland und den Westen. In seiner Studie »Der westliche Marxismus. Wie er entstand, verschied und auferstehen könnte« hat der 2018 verstorbene italienische Marxist Domenico Losurdo sich des westlichen Marxismus nochmals angenommen.

Nun soll die Bestimmung »westlich« auf den geografischen Interventionsraum der unter dem Begriff versammelten Marxist*innen verweisen. Doch das ist nicht unproblematisch. Die von Anderson gewählte geografische Beschränkung, die kritische Marxist*innen im Osten und Süden quasi per definitionem ausschloss, führte mitunter zum Ersatz durch »heterodox« oder »häretisch«. Diese alternativen Bezeichnungen werden von Losurdo indes nicht thematisiert. Der Grund dafür lässt sich schnell erahnen: Der italienische Marxist sieht in den von ihm herangezogenen und dem westlichen Marxismus zugeschriebenen Ansätzen keine bloß pragmatisch-geografische Bindung der Autor*innen, der Begriff verweist für ihn vielmehr auf eine inhaltliche Ausrichtung, der er Eurozentrismus vorwirft. Zudem schreibt er dem westlichen Marxismus, dem gemeinhin Figuren wie Georg Lukács, Karl Korsch, Ernst Bloch, Jean-Paul Sartre, die frühe Frankfurter Schule, Louis Althusser und weitere zugeordnet werden, unter anderem auch Hannah Arendt und Michel Foucault zu, was zumindest ungewöhnlich ist und auch nicht der Selbstbeschreibung der Letztgenannten entspricht.

Vorwurf des Eurozentrismus

Die Hauptthese von Losurdo ist unmissverständlich formuliert und zieht sich durch die fast 300 Seiten des Buches. Sie dreht sich um eine Frage, die schon zu Beginn der Arbeiterbewegung für intensive Auseinandersetzungen gesorgt hat: die Frage des Verhältnisses von Nation und Klasse. Die Klassenkämpfe seien im 20. Jahrhundert nur dann langfristig erfolgreich gewesen, wenn sie den Anspruch der nationalen Unabhängigkeit in Theorie und Praxis einbezogen hätten, so Losurdo. Die Klassenkämpfe des 20. Jahrhunderts - zumindest diejenigen, denen es gelungen sei, das globale Kräfteverhältnis zu beeinflussen - seien niemals »reine« Kämpfe zwischen Arbeit und Kapital gewesen, sondern waren zugleich Kämpfe der unterdrückten Völker gegen ihre Kolonialherren.

Was nun den westlichen Marxismus angeht, so hätten seine Vertreter*innen, Losurdo zufolge, auf unterschiedliche Weise, aber aus ähnlichen Gründen, das vertrackte Verhältnis zwischen Nation und Klasse vernachlässigt. Ihr abstraktes Plädoyer für das Absterben oder die Abschaffung des Staates und die Zurückweisung jeder Form von Macht lasse sich zurückführen auf die geradezu messianische Hoffnung einer unmittelbaren Überwindung des Kapitalismus, die nicht von Staat und Macht »beschmutzt« sei. Weil er aus abstrakten Überlegungen heraus die nationale Frage herunterspielte, habe der westliche Marxismus die internationale Lage im 20. Jahrhundert dramatisch missverstanden. Die Herabwürdigung der aus nationalen Befreiungskämpfen entstandenen sozialistischen Experimente, so Losurdo, führten zu einer Apologetik der imperialistischen Politik des Westens - unbeabsichtigt und unbewusst, mitunter aber auch intentional.

Den Staat aufbauen oder abschaffen?

Losurdo geht es vor allem um diejenigen Länder - sein Fokus liegt auf dem damaligen Ostblock sowie auf China, Vietnam und Kuba -, deren staatliche Souveränität Produkt der Kämpfe des 20. Jahrhunderts war. In diesen Ländern mussten die progressiven Kräfte, die aus den jeweiligen Befreiungskämpfen an die Macht gekommen sind, zuallererst sicherstellen, dass ihre territoriale Integrität nicht erneut imperialistisch angegriffen wird. Um dieser Gefahr zu entgehen, mussten die jeweiligen Kommunistischen Parteien sich auf die schnelle und effektive Entwicklung der Produktivkräfte ihrer Länder konzentrieren. Mao Zedongs Betonung entwickelter Produktivkräfte als unentbehrlicher Bedingung für die Verteidigung der Revolution und für den Übergang zum Sozialismus ist hier die zentrale Referenz Losurdos.

Während der Staatsapparat sich in diesen Ländern erst im Aufbau befand und zudem mit der imperialistischen Bedrohung umgehen musste, plädierte der westliche Marxismus, so Losurdo, ohne Rücksicht auf die realen Antagonismen des 20. Jahrhunderts kurzerhand für die Abschaffung des Staates. Und das, obwohl doch ohne staatliche Souveränität und nationale Unabhängigkeit auch der Klassenkampf zwischen Arbeit und Kapital letztlich zum Scheitern verurteilt sei - das ist der Eurozentrismus, den Losurdo den Autor*innen des westlichen Marxismus vorwirft. Diese Autor*innen haben seiner Meinung nach die antikolonialen Revolutionen entweder ignoriert oder fanden sie unwichtig - wenn sie ihnen nicht gar misstrauisch gegenüberstanden.

Zur Stärkung seiner These zieht er Texte der wichtigsten Vertreter der Kritischen Theorie heran, welche in den USA den Garanten der Freiheit sahen, von Ernst Bloch, der für seinen Utopieansatz an mehreren Stellen angegriffen wird, über Hannah Arendt, deren frühe Kritik des Antiimperialismus von einer abstrakten Totalitarismuskritik abgelöst worden sei und zu einer Gleichsetzung des Realsozialismus mit dem Nationalsozialismus geführt habe, bis zu »Empire« von Antonio Negri und Michael Hardt, das die imperialistische Politik verharmlose. Ähnlich gnadenlos wird Michel Foucault kritisiert, dessen Begriff von Biopolitik nur den europäischen Raum berücksichtige und nicht diejenigen Orte, wo das menschliche Leben auf die brutalste Weise unterjocht und kontrolliert wurde - die Kolonien.

Das Buch von Domenico Losurdo lässt sich mit Gewinn lesen. Es liefert reiches historisches Material über die Befreiungskämpfe weltweit - der Fokus liegt zwar auf China und der UdSSR, aber dem Autor kann nicht vorgeworfen werden, er habe nicht die weltweite Dimension der Kämpfe der »Verdammten dieser Erde« im Blick. Gleichwohl ist Losurdos Kritik in mehrfacher Hinsicht problematisch.

Kritik mit blinden Flecken

Das erste Problem ist Losurdos Zuordnung nicht-marxistischer Intellektueller zum westlichen Marxismus. So werden etwa Hannah Arendt und Michel Foucault als Marxist*innen getauft, obwohl sie sich weder den historischen Materialismus noch die Kritik der politischen Ökonomie zu eigen machten. Beide haben sich zwar sporadisch mit Marx’ Erbe und den marxistischen Debatten ihrer Zeit auseinandergesetzt und diese wiederum ihrerseits derart geprägt, dass sie von einem informierten Marxismus des 21. Jahrhunderts nicht ignoriert werden können. Dennoch erfüllen sie keine Kriterien, um sie dem westlichen Marxismus zuzuordnen. Vielmehr entsteht der Eindruck, Losurdos Zuordnung verschiedener Intellektueller zum Marxismus beruft sich auf zwei - schlicht ungenügende - Kriterien: Kritik an der Entwicklung sozialistischer Länder sowie sporadische Auseinandersetzung der Autor*innen mit Marx.

Das zweite Problem ist, dass Losurdo sich an keiner Stelle mit der Entwicklung in den sozialistischen Ländern - von der Bürokratisierung über die Industrialisierung nach kapitalistischem Vorbild bis zur staatlichen Repression - auseinandersetzt. Verantwortlich für die Delegitimierung des Marxismus und die gescheiterten Emanzipationsversuche sind allein, so scheint es, entweder der Imperialismus oder der westliche Marxismus. Einseitig ist die pauschale Kritik Losurdos an den sozialen Bewegungen um das Jahr 1968. Wüsste man nicht, dass die 68er-Bewegung in vielen Ländern die antikolonialen Befreiungskämpfe im Globalen Süden emphatisch begrüßte und unterstützte und sich gerade eine Alternative zum sowjetischen Modell erhoffte, würde man nach Losurdos Ausführungen denken, ihre Kritik an der Bürokratie und der Repression im Realsozialismus sei allein Apologetik imperialistischer Politik gewesen.

Ein weiteres Problem der Kritik Losurdos ist epistemologischer Natur. Die Kritik an Autor*innen, welche die globalen Kämpfe ignorieren oder abwerten, lässt sich nicht dort begründen, wo diese Autor*innen sich auf einer anderen Ebene bewegen. Der Antihumanismus Louis Althussers etwa stellt kein politisches Programm dar, das dem Universalisierungsanspruch des Begriffs des Menschen, wie ihn die Verdammten der »Dritten Welt« verfolgten, im Weg steht, wie der Autor unterstellt. Es handelt sich um eine analytische Kategorie, welche die bürgerlich-subjektivistische Reduktion gesamtgesellschaftlicher Prozesse auf die vermeintlich unveränderliche Psychologie des Individuums dekonstruieren soll. Hier wird die Ebene des Kritisierten verfehlt, was letztlich vor allem der Kritik schadet.

Zurück zur Machtfrage

Das Buch ist empfehlenswert, weil es zu einem inklusiven Marxismus dazugehört, der auch die Gegenposition und die Kritik am westlichen Marxismus zu Wort kommen lässt und seine Schwachstellen kennt - etwa dessen Ignoranz gegenüber der konkreten Situation der Kämpfenden in den Ländern der kapitalistischen Peripherie. Dass allerdings, um die bekannte Losung Louis Althussers zu gebrauchen, »die einsame Stunde der letzten Instanz«, welche »die ökonomische Dialektik im reinen Zustand« zur Geltung bringt, »nie schlägt«, ist kein Grund, das Politische in der Auseinandersetzung mit Bürokratisierung und Repression zu vernachlässigen. Die Lektüre von »Der westliche Marxismus« stellt die Leserin vor eine erhebliche, hochaktuelle Herausforderung: Welche revolutionäre Strategie wird imstande sein, das Kräfteverhältnis im 21. Jahrhundert zu beeinflussen, ohne vor der Machtfrage zurückzuschrecken, aber auch ohne die tragischen Sackgassen der Arbeiterinnenbewegung des vergangenen Jahrhunderts zu wiederholen? Losurdo hebt zu Recht die Dringlichkeit hervor, die Frage der Macht aufzugreifen, aber bleibt in gescheiterten Pfaden gefangen.

Domenico Losurdo: Der westliche Marxismus. Wie er entstand, verschied und auferstehen könnte. Papyrossa-Verlag, 279 S., br., 20 €.

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