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Vernunft und Glauben

Johannes Eichenthal lädt zu einer unterhaltsamen und erkenntnisreichen literarischen Wanderung durch Mitteldeutschland

  • Werner Abel
  • Lesedauer: 4 Min.

Wladimir Iljitsch Lenin formulierte in der Folge seiner Studien zur Philosophie Georg Friedrich Wilhelm Hegels (1770 -1832) den Aphorismus: »Das Bewusstsein widerspiegelt nicht nur die Wirklichkeit, sondern schafft sie auch.« Seine Mitstreiter vermochten ihm damals nicht zu folgen. Johannes Eichenthal, der Autor des vorliegenden, hier wärmstens empfohlenen Buches, formulierte nach dem Studium der Philosophie Johann Gottfried Herders (1744 -1803) den Aphorismus: »Die Sprachvernunft (Logos) widerspiegelt nicht nur die Wirklichkeit, sondern schafft sie auch.« Herder war, anders als Hegel, davon ausgegangen, dass sich der Mensch in der bezeichnenden Sprache vom Tier unterscheide und dass die Sprachvernunft (Logos) keine Eigenschaft neben anderen, sondern die Disposition des Menschen sei.

Folgerichtig beginnt Eichenthal seine literarische Wanderung durch Mitteldeutschland mit der Entstehung der mittelhochdeutschen Sprache durch Dialektausgleich zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert in der Region zwischen Braunschweig und Görlitz. Weil wir uns in Sprache konstituieren, ruft uns der Autor die Überlieferungsgeschichte der Sprache und Literatur in der Region Mitteldeutschland in Erinnerung. Dabei bleibt nicht unerwähnt, dass mit der Erneuerung der Sprache auch das Erneuerungsdenken zum Kern mitteldeutscher Mentalität wurde. Seit 1200 entstanden fast alle Erneuerungsbewegungen der deutschen Geschichte in der Region zwischen Braunschweig und Görlitz.

Der Autor schränkt ein, dass die vollständige Darstellung des Prozesses weder möglich noch beabsichtigt ist. Aus diesem Grund beschränkt er sich auf 20 Persönlichkeiten, gibt eine kurze biografische Einleitung, dokumentiert einen Wirkungsort, Buchtitel usw., führt in ein Werk ein und fragt nach dem, was bleibt.

Bereits in der Titelei fällt eine Seite mit den drei Porträts von Johann Wolfgang von Goethe, Bettina von Arnim und Walther Rathenau auf. In der Darstellung macht der Autor nachvollziehbar, wie Bettina von Arnim einen Goethe-Mythos stiftete, der sich in ihrem Berliner Salon und in dem Rahel Varnhagens mit der Erinnerung an die preußischen Reformer um den Reichsfreiherrn Karl von und zum Stein zum Kulturstaatsmythos verband.

Die Großeltern Rathenaus besuchten diese Salons und überlieferten ihrem Enkel den Mythos. Über den Goethe-Weimar-Preußen-Mythos nahm Rathenau die Tradition von Philosophie als Liebe zur Weisheit wieder auf. Weisheit umfasst den Gegensatz von Vernunft und Glauben. Die Reduktion von Philosophie auf Vernunft auf berechnenden Verstand nannte Rathenau »Intellektualphilosophie«.

Der Autor führt uns in Rathenaus Schrift »Von kommenden Dingen« ein. Das Manuskript hatte Rathenau am 31. Juli 1916 im Schlösschen Freienwalde fertiggestellt. 1917 erschien das Buch im renommierten S. Fischer-Verlag. In seiner Analyse der Weltwirtschaft setzte Rathenau bis heute gültige Maßstäbe. Die Verbindung von Industrie und Vernunft brachte einen Prozess hervor, den Rathenau »Mechanisierung« nannte und der alle menschlichen Verhältnisse mit den Streben nach finanzieller Effizienz durchdringt. Unter dem Deckmantel äußerlicher Freiheiten werden die Menschen von dieser blinden Mechanisierung (wir würden heute Globalisierung sagen) versklavt. Der Ruf nach »Vernunft« versagt angesichts des herrschenden »Effizienzstrebens«. Die Intellektualphilosophie, so Rathenau, hilft nur nicht, uns gegen die Mechanisierung zu behaupten, ja sie beschleunige diese Mechanisierung sogar noch. Die Intellektualphilosophie ist Verrat an der Humanität.

In der Stärkung der Kräfte unserer Seele sieht Rathenau dagegen eine Möglichkeit, die blinde Mechanisierung zu humanisieren. Diese Verbindung von Vernunft und Glauben verwunderte Zeitgenossen wie Robert Musil, die in den Grenzen der Intellektualphilosophie verharrten.

Rathenau erklärt die Notwendigkeit der Vereinigung der Gegensätze von Vernunft und Glauben: Nicht Parteiprogramme, sondern prophetische Visionen entscheiden über unsere Zukunft. Als wären seine Sätze für heute geschrieben, so klingen Rathenaus Feststellungen: Nicht das Wachstum des Verbrauchs von Gütern ist der Sinn des menschlichen Lebens, sondern die Schaffung ewiger Werte. Für diese Zukunftsaufgabe ist nach Rathenau, in der Tradition des Bismarck’schen »Volksstaates«, eine »Organokratie« Voraussetzung, eine Form der politischen Willensbildung, in der die Oberschicht beständig ausgetauscht wird und in der alle Menschen die gleichen Möglichkeiten zur Bildung erhalten.

Die Größe Rathenaus besteht nach Eichenthal darin, dass er, wie Lenin, Gegensätze und gegensätzliche Denkströmungen zu vereinigen vermochte. Wenn man dies nicht berücksichtigt, vermag man keinen Zugang zum Rathenau’schen Werk zu erlangen.

Johannes Eichenthal wählte die Form der Wanderung, um uns die sprachliche und literarische Überlieferung nahezubringen. Die dokumentierten Wirkungsorte sind innerhalb der Region alle in einer Tagesreise erreichbar. Die genannten Bücher sind in der Regel antiquarisch erhältlich. Es sei hier frank und frei verraten: Es gibt viel zu entdecken!

Johannes Eichenthal:
Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland. Von Goethe bis Rathenau. Sprache und Eigensinn.
Mit einem Geleitwort v. Prof. Eberhard Görner.
Mironde-Verlag, 320 S., geb., 29,90 €.

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