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»Alles kann schiefgehen in der Welt«
Ein großes Optimismustalent: Vor 20 Jahren starb der Schriftsteller Stefan Heym
Als Stefan Heym am 16. Dezember 2001 starb, hatte ich ihn gerade als Schriftsteller entdeckt. Da kannte ich ihn natürlich schon. Doch aufgrund generationeller Zugehörigkeit gewissermaßen in umgekehrter Reihenfolge: Stefan Heym war für mich zunächst der Politiker gewesen, der auch ein berühmter Schriftsteller war, was ich von zu Hause wusste. Es ruckelte sich erst im Laufe der Jahre zurecht zum Bild des Schriftstellers, der spät, mit über 80, noch zum Mandat gekommen war - direkt gewählt in Berlin-Prenzlauer Berg, als unabhängiger Kandidat für die PDS. Allerdings nur kurz: Nach nicht mal einem Jahr kehrte Stefan Heym dem Bundestag 1995 wieder den Rücken, als ausschlaggebenden Grund nannte er eine Diätenerhöhung, gegen die er habe protestieren wollen.
Das fand ich, damals noch ein Kind, traurig. Weil mir der alte Mann mit den Haaren an der Seite statt oben auf dem Kopf und den großen Augenbrauen sowieso leidtat mit dem Politikersein. Es kam für mich wohl rüber, dass das nicht seiner eigentlichen Profession entsprach, dass da viel Pflichterfüllung drinsteckte und er nicht zu den abgebrühten Politikern im Parlament passte, wer weiß. Jedenfalls passte es zu der kindlichen Ahnung dieser Jahre, dass selbst die Erwachsenen, besonders die ehrlichen und gutmütigen, dem Westen irgendwie nicht gewachsen waren.
Einige Jahre später, um die Jahrtausendwende, las ich zuerst »5 Tage im Juni« (erschienen 1974 in Westdeutschland, erst 1989 in der DDR) und direkt danach den »Radek« (1995). Das habe ich seitdem noch zwei weitere Male getan - für mich gehören sie, wenn auch sehr unterschiedlich in Länge und Machart, bis heute zu den besten politischen Romanen überhaupt und den wichtigsten in Stefan Heyms Werk.
An der Figur des Karl Radek, dem deutsch-polnisch-jüdischen Kommunisten, der sein ganzes Leben der Revolution vermachte und es später in einem sowjetischen Gulag verlor, hänge ich bis heute beim Versuch, den Stalinismus zu begreifen. Bisher ist mir das noch nicht gelungen. Was ich aber irgendwann verstanden habe, ist, dass sich auch in Stefan Heyms Leben ganz viel von dem, was das 20. Jahrhundert ausmachte, zusammengezogen hat.
Denn wiederum einige Jahre nachdem ich begonnen hatte, Stefan Heym zu lesen, fing ich an, vermehrt auch über Stefan Heym zu lesen. Er hat so ein richtiges Jahrhundertleben geführt, auch wenn das abgedroschen klingt, aber es ist wahr: Das 20. Jahrhundert steckte in Stefan Heym. Zu seiner Geburt 1913 in Chemnitz gab es noch einen Kaiser in Deutschland; er war jung in der Weimarer Republik, floh vor den Nazis, erst nach Prag, dann in die USA. Als US-Soldat leistete er seinen Beitrag dazu, Europa von den Deutschen zu befreien, er hat Angehörige im Holocaust verloren - und dann verließ er die USA, weil dort Kommunisten gejagt wurden, gen Ostblock.
So kam Stefan Heym in die DDR, wo er blieb, die er aber bis zu ihrem Ende besser machen wollte, weil er bis zum Ende seines Lebens an der Möglichkeit eines unbürokratischen Sozialismus festhielt. Die DDR mochte ich nie so sehr wie die Tatsache, dass Stefan Heym in dieses Land aus freien Stücken gegangen war. Vorher war er in Polen und der Tschechoslowakei, wo man ihn aber nicht wollte.
Je älter ich werde, desto mehr Respekt empfinde ich dafür, dass Stefan Heym nicht zum Zyniker wurde, dabei muss er von seinen Hoffnungen ziemlich oft enttäuscht gewesen sein. Aber vielleicht lag das auch daran, dass er das Schiefgehen schon mit einpreiste. Er hatte sich gewünscht, dass die DDR ein Staat werde, »wo die Leute nicht mehr weglaufen, sondern im Gegenteil, nicht nur zu uns zurückkehren, sondern wir auch noch neue anziehen«; wenn man den Sozialismus richtig mache, dann sei er eine große und wunderbare Sache. Aber schiefgehen könne alles in der Welt, sagte Heym damals, im November 1989, lakonisch.
Lähmen lassen wollte er sich von diesem, durch Lebenserfahrung erworbenen Wissen nicht. Heute denke ich, dass er sehr treu und trotzdem kritisch war; das gibt es selten, ein solches Maß an Redlichkeit. Auch das erkläre ich mir mit Stefan Heyms ausgeprägtem Optimismus-Talent.
Vielleicht rührte mein Mitleid mit dem Parlamentarier Stefan Heym auch daher, dass man 1994 sehen konnte, dass da einer mit aufrichtigem Anliegen, obgleich schon unfassbar alt in meinen Augen, Menschen gegenüberstand, deren Aufgabe es war, Hoffnungen auszutrocknen. Denn das tat ja die CDU, besonders im Osten: Mitte der 90er Jahre hatten dort, wo ich herkomme, die Leute schon längst wieder die Schnauze voll von Kohl, mit der PDS stimmte allerdings auch irgendetwas nicht.
Stefan Heym gab nichtsdestotrotz der PDS, und vor allem dem Parlament der Westdeutschen eine echte Chance - die Hoffnungskiller von der CDU dagegen wollten nicht einmal aufstehen, als es ihm im November 1994 als ältestem Abgeordneten zufiel, die Legislatur zu eröffnen. Zwei Jahre vor seinem Tod sagte er über diesen Tag in einem Interview: »Dass sie eigentlich hätten aufstehen sollen und klatschen, das habe ich gar nicht gewusst (...) Ich habe also gar nicht vermisst, dass sie es nicht taten. Ich war schon froh, dass sie mich nicht ausgebuht haben, nicht geschrien haben ›Raus‹ oder mich gar mit antisemitischen Rufen begrüßten. Immerhin haben sie schön still gesessen.« Grundoptimistisch ist eben nicht dasselbe wie naiv.
Er starb in Jerusalem, während einer Reise zu einem Heinrich-Heine-Kongress, und liegt begraben auf dem jüdischen Friedhof im Berliner Stadtteil Weißensee.
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