- Kultur
- »Das Ereignis« von Annie Ernaux
»Ich war ein Tier«
Gegen den Reproduktionszwang: Annie Ernaux schildert in ihrer autobiografischen Erzählung »Das Ereignis« einen Schwangerschaftsabbruch im Frankreich der 60er Jahre
Als ich mich vor zwei Jahren sterilisieren lassen wollte, fragte mich die Ärztin, die das Aufklärungsgespräch führte, ob ich mir denn wirklich sicher sei. »Was wäre, wenn plötzlich Ihr Traummann auftaucht und unbedingt ein Kind mit Ihnen will?« Oder mehrere. Sie wird wohl im Plural gesprochen haben. Ich sei ja auch noch so jung. Wäre ich zu dem Zeitpunkt »in der Hoffnung« gewesen, hätte sie mich mit Sicherheit vor den Risiken einer so späten Schwangerschaft gewarnt. Frauen können es Ärztinnen und Ärzten nicht recht machen. Was wir auch mit unserem Körper tun - wir sind stets rechenschaftspflichtig, vor allem wenn es die Reproduktion betrifft.
Doch was ist, wenn es zu spät ist? Wenn die ausbleibende Regelblutung zur Gewissheit wird und etwas in einer heranwächst, was da nicht sein soll? Etwas, das für eine junge Frau eine existenzielle Bedrohung des hart erarbeiteten Klassenaufstiegs aus dem Arbeiterinnenmilieu bedeutet.
Die inzwischen 81-jährige Annie Ernaux beschreibt in ihrem nun 20 Jahre nach der französischen Veröffentlichung auf Deutsch erschienenen autobiografischen Buch »Das Ereignis« die Torturen einer Frau im Frankreich der 60er Jahre, der die notwendigen Kontakte fehlen und die verzweifelt im Freundes- und Bekanntenkreis nach Unterstützung sucht. Abtreibungen sind - wie in vielen anderen Ländern zu dieser Zeit - illegal, und diejenigen, die sie dennoch durchführen, werden kriminalisiert. Doch handeln sie auch nicht zwangsläufig aus humanitären Motiven.
Die junge Frau erlebt Ablehnung und Herabwürdigung durch verschiedene Ärzte. Das Wort Abtreibung fällt nie, es ist ein schmutziges Wort für eine schmutzige Angelegenheit schmutziger Frauen. Den verheirateten Freund, dem Ernaux, die damals noch Duchesne heißt, sich anvertraut, erregt die Offenbarung der Schwangerschaft. Er versucht, sich an sie heranzumachen, während seine Frau unterwegs ist. Das Geld für die Abtreibung will er der Freundin nicht geben.
Diese Mischung aus Lüsternheit und Abgeschrecktsein vor der schwangeren, unverheirateten Frau wird ihr häufiger begegnen. Denn die unverheiratete Frau hat Schuld auf sich geladen. Der unverheiratete Samenergießer bleibt außen vor und gesellschaftlich ungeächtet. Auch er verweigert finanzielle oder emotionale Hilfe. Die hygienisch zweifelhafte Dienstleistung der alten Hilfskrankenschwester, die Ernaux schließlich in Paris findet, kostet die junge Frau 400 Francs. Auf heutige Verhältnisse umgerechnet entspricht das etwa 900 Euro. In Frankreich sind Abtreibungen heutzutage immerhin frei zugänglich und kostenlos. In Deutschland zahlt frau dafür aktuell bis zu 600 Euro.
Immerhin dürfen Frauen, Ärztinnen und Ärzte in Deutschland aufatmen: Informationen zum Schwangerschaftsabbruch bereitzustellen, soll - geht es nach der neuen Bundesregierung - künftig nicht mehr strafbar sein. Die Abschaffung des sogenannten Werbeverbots für Abtreibungen ist ein Schritt in die richtige Richtung. Bestehen bleibt allerdings, vor allem im ländlichen und/oder katholisch geprägten Raum, die Schwierigkeit, überhaupt jemanden zu finden, der bereit ist, den Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. Hinzu kommen die zwingend vorgeschriebene Beratung und die gesetzlich verankerte dreitägige Bedenkzeit (beides hat das Parlament in Frankreich 2015 endlich abgeschafft und gleichzeitig Abbrüche durch Hebammen und in Gesundheitszentren erlaubt).
Diese Vorgaben führen dazu, »dass Frauen später zum Schwangerschaftsabbruch kommen, was die Gesundheit einschränkt«, kritisiert Kristina Hänel im Interview mit dem Onlineportal »DieStandard.at«. Hänel war als »die Abtreibungsärztin« bekannt geworden, nachdem ein Abtreibungsgegner sie wegen der auf ihrer Praxiswebsite bereitgestellten Informationen angezeigt hatte. Den Prozess verlor Hänel, die gesellschaftliche Resonanz gibt ihr Recht.
Wesentliche Informationen fehlten damals, Ende 1963, auch der 23-jährigen Studentin. »Im Vergleich zu einer zerstörten Karriere [des Arztes] wog eine Stricknadel in der Vagina nicht schwer.« Der Selbstversuch mit der Stricknadelmethode scheitert kläglich. Mit der Sonde, die die »Engelmacherin« ihr in die Gebärmutter eingeführt hat, läuft die junge Frau mehrere Tage herum, bis sturzbachartig endlich der Fötus abgeht. »Ich war ein Tier«, kommentiert die Autorin ihre damalige Wahrnehmung. Wegen starker Blutungen landet sie schließlich nackt und preisgegeben auf dem Operationstisch eines Chirurgen. Der fertigt sie gefühllos ab und brüllt auf ihre verzweifelte Frage, was er mit ihr anstellen werde: »Ich bin doch nicht der Klempner!« Hätte sie ihm nur gesagt, dass sie angehende Lehrerin ist - aus der der moralisch verkommenen Arbeiterinnenklasse zugeordneten Aussätzigen wäre ein armes gefallenes Mädchen geworden, das zumindest sein Mitleid verdient hätte.
Anhand dieses wahrhaft erschütternden Ereignisses seziert Ernaux wie in ihren zahlreichen vorangegangenen Reflexionen die Klassengesetze und was es bedeutet, als Frau aus der Arbeiterinnenklasse den sozialen Aufstieg zu bewältigen. In ihren schmalen Büchern steckt eine ganze Welt. Es ist eine oft brutale Welt. Ernaux’ Reflexionen rütteln auf, und sie machen zornig. Sie bedeuten auch: Es darf nicht so bleiben. Das Erreichte muss verteidigt, das Mangelhafte beseitigt werden.
Heute kann ich mich für Freundinnen und Nachbarinnen freuen, die sich für ein Kind entscheiden. Oder für mehrere. Die Sterilisation hat mir innere Ruhe verschafft, weil ich damit dem gesellschaftlichen Reproduktionsdruck entkommen bin. Meine Partner, die ich über die Jahre fragte, ob sie zu einer Sterilisation bereit seien, lehnten allesamt ab, obwohl sie behaupteten, ebenso sicher zu sein wie ich, niemals Kinder haben zu wollen. Kratzte die Vorstellung eines solch intimen Eingriffs an ihrem männlichen Ego? Fakt ist: Sich vor ungewollter Schwangerschaft zu schützen bleibt Frauensache.
Annie Ernaux: Das Ereignis. A. d. Franz. v. Sonja Finck. Suhrkamp, 104 S., geb., 18 €.
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.