Klatschen und Zischen

Die Theaterkritikerin Jenny Marx und die Leidenschaft der Proleten für die dramatische Kunst

  • Lara Wenzel
  • Lesedauer: 6 Min.

Was eine solche Frau, mit so scharfem und so kritischem Verstande, mit einem politisch so sicheren Takt, mit solch einer leidenschaftlichen Energie, solch großer Kraft der Hingabe, in der revolutionären Bewegung geleistet hat, das hat sich nicht an die Öffentlichkeit vorgedrängt, ist niemals in den Spalten der Presse erwähnt worden.«

Herzlichste Worte fand Friedrich Engels für die gerade verschiedene Jenny Marx, die am 2. Dezember 1881 einem Krebsleiden erlag. Die 1814 als Johanna Bertha Julie Jenny von Westphalen Geborene gab ihre gesellschaftliche Stellung auf, um sich mit dem vier Jahre jüngeren Karl Marx zu vermählen, mit dem sie seit Kindertagen bekannt war. 45 Jahre unterstützte sie hingebungsvoll ihren Mann, kümmerte sich um Kinder und Haushalt und übertrug seine unleserlichen Manuskripte. Später schreibt sie über die anregende Zeit als Kopistin: »Die Erinnerung an die Tage, an denen ich in Karls kleinem Stübchen saß, seine kritzligen Aufsätze kopierte, gehört zu den glücklichsten meines Lebens.«

Die Erinnerungskultur in der DDR wies ihr den Platz als treue Begleiterin zu, und auch heute fällt es schwer, sie aus dem Schatten ihres Ehemanns zu rücken. Jenny Marx war sehr gebildet und vermutlich eine der größten Kennerinnen der Schriften von Karl Marx. Regelmäßig korrespondierte sie mit den Liebknechts, Ferdinand Lassalle und dem engen Familienfreund Engels. Die belesene Sozialistin blieb jedoch der häuslichen Sphäre und den Geschlechterzuschreibungen der Zeit verpflichtet. Trotz der katastrophalen finanziellen Situation suchte sie sich keine Anstellung und war stets darauf bedacht, eine bürgerliche Fassade aufrecht zu erhalten. Auch verurteilte sie zutiefst die Partnerschaft zwischen der Arbeiterin Mary Burns und Engels, die unverheiratet zusammenlebten.

Als Feministin avant la lettre lässt sie sich nicht stilisieren. So gelingt es auch ihren Biografinnen nur mit Mühe, diese auf ihre dienende Rolle bedachte Frau zur eigenständigen Persönlichkeit zu modellieren. Aus ihren Briefen ergibt sich das Bild einer scharfsinnigen, polemischen Autorin, die politische Situationen interessant und gewitzt kommentierte. Öffentlich äußerte sie sich nur selten. So verfasste sie einen Nachruf auf den Pariser Kommunarden Gustave Flourens, den Wilhelm Liebknecht 1871 in der Zeitung »Der Volksstaat« veröffentlichte.

Vier Jahre später erscheint ihre erste Theaterkritik in der »Frankfurter Zeitung und Handelsblatt«. Die fünf bislang bekannten Texte, zwei weitere erschienen 1879 im Allgemeinen Deutschen Badejournal »Der Sprudel«, sind die einzigen kontinuierlichen Publikationen aus ihrer Feder. In ihnen sticht die große Bewunderung für Shakespeare hervor – eine Leidenschaft der ganzen Familie Marx, die aus dessen Dramen, ihrer ›Hausbibel‹, Passagen rezitierten.

Eleanor »Tussy« Marx, ihre jüngste Tochter, schickte die erste Kritik an den Sozialisten Karl Hirsch, der als Pariser Korrespondent für die Zeitung berichtete. Es war »eine kleine Kritik über Herrn Irving«, die den Londoner Schauspieler gegen die spießbürgerliche Presse verteidigen wollte. Diese habe »sich infolge erbärmlicher Intrigen auf ihn gestürzt«. Anonym wurde »Aus der Londoner Theaterwelt« abgedruckt. Aufmerksam muss Jenny Marx die Karriere des jungen Mannes beobachtet haben, dessen überzeugendes Minenspiel sie ausführlich beschreibt. Mit 32 Jahren erhielt Henry Irving ein Engagement am Lyceum Theatre in London, dessen Leitung er später übernahm, und arbeitete dort an der Wiedererweckung der Shakespear›schen Stoffe. Als Hamlet betrat er ganze 200 Mal die Bühne im Westend. Er war ein vielseitiger Darsteller, der über dreißig Jahre die Theaterszene der Hauptstadt beherrschte und als erster seiner Profession zum Ritter geschlagen wurde.

Jenseits der Lobeshymnen auf Irving fällt ihre genaue Analyse des Publikums auf, die sich neben der Verteidigung ihres liebsten Schauspielers durch alle Texte zieht. Die polemischen Beobachtungen sind durch und durch klassenbewusst und heben die Liebe der Arbeiter*innen für Shakespeare hervor. Neben den Schauspielern sind sie es, »die ihn aus den billigen Schillingsausgaben gründlich kennen und ihren ›Will‹ im tiefen Herzen tragen«. Dagegen kontrastiert Jenny Marx die Oberflächlichkeit der anderen Inszenierungen im Westend, die von den »gebildeten Klassen« keineswegs der Sprache wegen besucht wurden. Die protzige Ausstattung, mit Goldfäden durchwirkte Kleider und die elektrische Bühnenbeleuchtung zogen das neue kapitalistische Bürgertum an, das dem öffentlichen Spektakel beiwohnte, um sich selbst zu präsentieren. Auf die anfängliche Ablehnung der Irving‹schen Interpretationen durch die Presse reagierten die Philister empfindlich und blieben weg. Nicht so der Arbeiter: »Er geht ins Theater, traut seinen eigenen Augen und Ohren, klatscht und zischt nach Herzenslust und eigenem Gutdünken und richtigem Takt.«

Die gutbürgerliche Theaterdebatte, in die die Autorin mit ihren kleinen Beiträgen intervenierte, setzt sich heute als historische fort. An der Frage der Publikumszusammensetzung im viktorianischen Theater lässt sich viel über den Klassenstandpunkt der Autor*innen ablesen. So beschreibt Gudrun A. Markmann, dass das Theaterpublikum bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts aus Arbeiter*innen bestand, die für einen geringen Eintrittspreis Zerstreuung suchten. Die Anglistin kritisiert in bester bürgerlicher Manier das Benehmen der Zuschauer*innen. Kinder wie Erwachsene schwatzten während der Vorstellung und kommentierten das Gezeigte, dabei landeten die Schalen von Nüssen und Orangen auf dem Boden. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts soll das Bürgertum, Disziplin und Ordnung im Gepäck, die Theatersäle erobert haben. Nicht nur Jenny Marx würde hier Einspruch erheben.

Wer dem großen Drift der Proleten in die Music Halls, in dieser Zeit aufkommende Unterhaltungsstätten, glaubt, geht den Philistern der Zeit auf den Leim, meint auch Jim Davis. Seine Analyse des Publikums zeigt, dass auch im späten 19. Jahrhundert Bürger, Adlige und Proleten die Theater besuchten. Dass die Zuschauer*innen auch im Westend, einem Viertel, in dem wenige Arbeiter*innen lebten, heterogen waren, ist ein interessantes historisches Detail, das Jenny Marx› Kritiken liefern. Auch der Glaube, dass das neue kapitalistische Bürgertum nach anspruchsvoller Unterhaltung lechzte, ist dem Selbstbild der Bourgeoisie geschuldet.

Arnold Hauser schreibt in seinem Monumentalwerk »Sozialgeschichte der Kunst und Literatur«, der Bourgeois bevorzuge vielmehr »eine Malerei, die nichts als angenehmer Wandschmuck, eine Literatur, die nichts als eine anstrengungslose Unterhaltung, eine Musik, die leicht und einschmeichelnd ist und ein Theater, das mit den Tricks der pièce bien faite seine Triumphe feiert«. Well-Made-Play und Melodrama waren die bevorzugten Gattungen des Bürgertums.

Großbritannien mag sich für seinen Shakespeare rühmen. Das ist jedoch »Alles nationaler Dünkel und Scheinheiligkeit! Gilt es, dem ›Swan of Avon‹, dem größten aller Dichter ein Denkmal zu setzen, so sind es nur die Scherflein der unteren Volksschichten, die es zur Ausführung bringen«, beteuert Jenny Marx. Seit Jugendtagen teilte sie das Interesse an Shakespeare mit ihrem Mann, das sich auf die Töchter übertrug. Und auch die eine oder andere Shakespeare-Referenz mag auf ihr Anraten den Weg ins Marx‹sche Werk gefunden haben. Vielleicht, so könnte man spekulieren, ist dies nicht aus bildungsbürgerlichem Reflex geschehen, sondern der besseren Verständlichkeit wegen für jene, die »ihren ›Will‹ im tiefen Herzen tragen«.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.