- Berlin
- Menschen mit Behinderung
Das Bewusstsein für Barrierefreiheit wächst
Christiane Braunert-Rümenapf, Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen, über anstehende Aufgaben für mehr Teilhabe
Frau Braunert-Rümenapf, wir hatten gerade einige technische Probleme wie sie häufig bei Online-Konferenzen auftreten. Sie sagen, Menschen mit Behinderungen müssen bei der Digitalisierung mitgedacht werden. Hat sich etwas verbessert in den vergangenen zwei Jahren?
Es gibt für digitale Konferenzen noch immer keine verbindliche Lösung, bei der Barrierefreiheit und Datenschutz gleichermaßen berücksichtigt sind und die überall zur Verfügung steht. Dabei müssen auch die unterschiedlichen Bedarfe sinnesbehinderter Menschen berücksichtigt werden. So benötigen hörbehinderte Menschen zum Beispiel eine Induktionsschleife oder taube Menschen benötigen Gebärdensprachdolmetschende und sind damit auf ein nicht-verschiebbares Fenster und auf eine stabile zusätzliche Leitung angewiesen. Blinde oder sehbehinderte Menschen benötigen einen Screenreader oder eine andere Möglichkeit, um einen Chat verfolgen zu können. Und mit jedem neuen Tool müssen sie sich auch jedes Mal wieder neu einarbeiten.
Christiane Braunert-Rümenapf ist seit 2017 Beauftragte für Menschen mit Behinderungen des Landes Berlin. Die Landesbeauftragte wird vom gesamten Senat berufen - bei voller Mitbestimmung des Landesbeirats für Menschen mit Behinderung. Dienstrechtlich ist sie dem für Soziales zuständigem Senatsmitglied direkt zugeordnet. Über die Auswirkungen der Corona-Pandemie und die dringend notwendigen Verbesserungen für die mindestens 346 000 Berliner*innen mit Behinderung sprach mit ihr Claudia Krieg.
Ist das Problem als solches noch nicht erkannt?
Ich habe schon den Eindruck, dass inzwischen klar ist, wie wichtig und notwendig sowohl datenschutzkonforme als auch vollständig barrierefreie digitale Lösungen in allen Lebensbereichen sind. Im Koalitionsvertrag steht dazu ja, dass die Berliner Verwaltung bürgernah und barrierefrei aufgestellt werden soll. Behinderte Menschen klagen übrigens schon seit Jahren, lange vor Corona, über eine mangelnde digitale Infrastruktur zum Beispiel bei Wohnangeboten. Und wenn es sie gibt, dann können sie sie oft nicht selbstbestimmt nutzen, also dann, wann sie es möchten. Wichtig ist auch die Vermittlung entsprechender Medienkompetenzen. Hier, sowohl bei der Verfügbarkeit als auch bei der Befähigung zur Nutzung barrierefreier digitaler Ressourcen, besteht eine große soziale Ungleichheit, die Corona noch einmal deutlich gemacht hat.
Können Sie das konkretisieren?
In der Pandemie hat sich im Bereich Bildung gezeigt, dass die notwendigen Ressourcen, sowohl der digitalen Infrastruktur als auch Hard- und Software für das Homeschooling nicht ausreichend zur Verfügung stehen. Zudem sind diese nicht vollumfänglich barrierefrei nutzbar, was für Schülerinnen und Schüler mit Behinderung die Problematik zusätzlich verschärft hat. Deren Bedarfe von Anfang an mitzudenken, ist unabdingbar. Was ich in der Koalitionsvereinbarung sowohl auf Bundesebene als auch in Berlin zudem vermisse, ist eine Vereinbarung zu einer ressortübergreifenden Zusammenarbeit, um die Corona-Folgen systematisch aufzuarbeiten. Anderes Beispiel: Was wir bei den Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie, wie Impfen und Testen, an Barrierefreiheit hartnäckig erkämpft hatten, ist in der sich erneut verschärfenden Situation teilweise nicht mehr vorhanden. Viele Testzentren sind nicht barrierefrei zugänglich, ebenso Informationen zum Testen und Impfen, die Gebärdensprachdolmetschung steht teilweise nicht mehr zur Verfügung. Leichte Sprache hat sich als Querschnittsthema nicht etabliert.
Aber steht Berlin bei Teilhabe und Chancengleichheit generell so schlecht da?
Wir haben seit dem 7. Oktober dieses Jahres ein neues Landesgleichberechtigungsgesetz. Darin sind auch einige Beteiligungsrechte für Menschen mit Behinderungen deutlich stärker konkretisiert worden. Wenn man gemeinsam mit Menschen mit Behinderung die Grundsätze für eine Digitalisierungsstruktur festlegt und die betroffenen Menschen dafür nach ihren Bedarfen befragt, können wir auch eine gute Grundlage für barrierefreie Digitalisierung schaffen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Datenschutzkonformität und Barrierefreiheit gleichberechtigt sind und gleichzeitig hergestellt werden müssen.
In welchen Bereichen muss es noch Verbesserungen geben?
Fangen wir einmal mit Gesundheit an. Ich wünsche mir eine Kompensationsstrategie für die pandemiebedingten Defizite. Dazu gehört die Kompensation der vielen ausgefallenen Therapieangebote. Dies ist insbesondere für Kinder und auch Jugendliche wichtig, denn hier schließen sich bestimmte Entwicklungsfenster sehr schnell und es gilt, zumindest die bereits erreichten Therapieerfolge zu sichern. Trotz einiger Fortschritte haben Menschen mit Behinderung grundlegend noch nicht die gleiche medizinische Versorgung wie Menschen ohne Behinderung. Nach wie vor ist ein großes Problem der häufig nicht barrierefreie Zugang zu Arztpraxen. Das beginnt bereits damit, dass Stufen überwunden werden müssen, um ins Gebäude zu gelangen. Es gibt keine verstellbaren Untersuchungsmöbel, es fehlen Arzthelfer*innen, die die einfache Sprache beherrschen. Ebenso fehlen barrierefreie Informationen und Webseiten.
Ist da nicht auch der Bund in der Pflicht?
Ein Problem, das auf Bundesebene gelöst werden muss, ist die Assistenz für Menschen mit Behinderungen im Krankenhaus. Von der zuletzt beschlossenen Regelung werden nicht alle Menschen erfasst, die zu Hause Assistenz erhalten und diese auch im Krankenhaus benötigen. Einen wichtigen Fortschritt stellen in Berlin die Medizinischen Behandlungszentren für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen (MZEB) dar.
Was fällt Ihnen im Bereich Bildung ein?
In der Berliner Koalitionsvereinbarung steht, dass die inklusive Schule vorangetrieben werden soll. Es sollen 36 Schwerpunktschulen etabliert sein, also allgemein bildende Schulen, die aufgrund ihrer Ausstattung besonders in der Lage sind, Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischen Förderschwerpunkten aufzunehmen. Und es soll ein Modellprojekt für ein inklusives Gymnasium geben. Das ist ein gutes und sinnvolles Vorhaben, jedoch zu wenig mit Verbindlichkeit, wie einer Zeitschiene, unterlegt. Dann will man sich verstärkt um pädagogisches Personal kümmern. Aber auch da gibt es keine Konkretisierungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung. Wir wissen, dass Lehrkräfte mit sonderpädagogischer Qualifizierung ein sehr rares Gut sind. Hier braucht es eine ganz konkrete Kampagne, um ähnlich wie im Pflegebereich eben tatsächlich auch dem Fachkräftemangel zu begegnen. Auch über die Herstellung von Barrierefreiheit in den Schulen habe ich nichts gelesen. Als Diskriminierung sehe ich bundesweit die Tatsache, dass Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung nicht die Möglichkeit geboten wird, einen Schulabschluss zu erwerben.
Wie sieht es im Bereich Ausbildung aus?
Beim Erreichen inklusiver Bildung stellt der große Bereich der beruflichen Bildung derzeit das Stiefkind dar. Dies gilt im Bereich der dualen Ausbildung und beginnt mit der fehlenden baulichen Barrierefreiheit. Die Arbeitslosenquote von Menschen mit Behinderung ist immer höher als die Arbeitslosenquote von Menschen ohne Behinderung. Und dabei wissen wir, dass dies nicht an deren fehlender Qualifizierung oder Motivation liegt. Die Ausgleichsabgabe auf Bundesebene für Betriebe und Unternehmen, die keine Menschen mit Behinderung einstellen, muss deutlich erhöht werden. Gleichzeitig ist es wichtig, für Arbeitgeber Informationen unkompliziert zur Verfügung zu stellen: Wie kann das Büro barrierefrei umgebaut oder eine Toilette nachgerüstet werden? Ein Stichwort wäre hier noch einmal Corona. Was ist mit der Generation von jungen Menschen mit Behinderung, die sich während der Pandemie im Übergang Schule - Arbeitsmarkt befunden haben und für die Beratungen, Praktika und ähnliches ausgefallen sind?
Was geschieht mit diesen Menschen?
In vielen Fällen wissen wir, dass die Berufswünsche der Jugendlichen mit Behinderung oft von Dritten geprägt sind. Da spielt das Praktikum oder die Beratung noch mal eine ganz andere Rolle, damit sie für sich eine zukunftsfähige berufliche Entscheidung treffen können.
Was kann die Landesbeauftragte machen?
Ich bringe solche Themen immer wieder ein - zum Beispiel in allen Berliner Senatsverwaltungen in die Arbeitsgruppen für Menschen mit Behinderung, in denen ich aktiv bin. Diese Arbeitsgruppen haben jetzt das erste Mal in ihrer 20-jährigen Entstehungsgeschichte eine rechtliche Grundlage im Landesgleichberechtigungsgesetz. Das ist ein großer Fortschritt, das haben wir lange gefordert. Festgelegt ist nun auch, dass diese Arbeitsgruppen zweimal im Jahr im Beisein der zuständigen Senator*innen tagen. Auch der Tätigkeits- und Verstößebericht, den ich schreibe, war zuletzt in zwei Ausschüssen Thema, bei Wohnen und Soziales. Das war meines Wissens das erste Mal. Zudem pflege ich eine enge Zusammenarbeit mit der Ombudsstelle bei der Landesantidiskriminierungsstelle.
Sprechen wir noch über Mobilität.
Im Bereich Mobilität gibt es noch große Unterschiede beim Erreichen von Barrierefreiheit. Im Öffentlichen Personennahverkehr haben wir in Berlin eine relativ dichte Taktung und eine relativ gute Anbindung. Dies gilt aber noch nicht in allen Außenbezirken. Von 175 U-Bahnhöfen sind 36 noch nicht barrierefrei, 45 haben kein Blindenleitsystem. Es verkehren eigentlich nur noch barrierefreie Niederflurbusse. Die Bushaltestellen sind aber nur zu einem sehr geringen Teil barrierefrei. Die BVG erfüllt die Barrierefreiheit entsprechend des Personenbeförderungsgesetzes noch nicht. Sie ist aber auf einem recht guten Weg. Berlin hat auch einen besonderen Fahrdienst für Menschen mit Behinderung, die den Öffentlichen Personennahverkehr nicht nutzen können - dieser ist im Landesgleichberechtigungsgesetz fixiert. Das finde ich sehr gut und wichtig.
Wie steht es bei der S-Bahn?
Die Zuständigkeit für die S-Bahn liegt bei unterschiedlichen Unternehmensbereichen der Deutschen Bahn, was immer wieder zu Schwierigkeiten führt. Sie gehört nicht zum ÖPNV, wo wir mit dem Personenbeförderungsgesetz eine gute rechtliche Grundlage haben. Es nutzt wenig, wenn wir in Berlin auch den letzten Rufbus barrierefrei bekommen, aber Menschen mit Behinderungen dann am nicht-barrierefreien S-Bahnzugang stranden. Und es sind nicht nur die nicht-barrierefreien Bahnhöfe. Behinderte Menschen können oft nicht spontan reisen - Rollstuhlnutzende müssen Bahnfahrten teilweise mit mindestens 24 Stunden Vorlauf vorher anmelden. Die Mobilitätshilfe wird auch nicht 24 Stunden zur Verfügung gestellt, sondern nur innerhalb einer bestimmten Zeitspanne. Und in der Ersten Klasse gibt es keine barrierefreie Toilette. Da ist viel zu tun. In der neuen Koalitionsvereinbarung Berlin ist festgehalten - wie bereits in der letzten, eine nicht erledigte Aufgabe aus der Wahlperiode - dass es ein Mobilitätskonzept für Menschen mit Behinderungen geben soll. Hier gibt es tatsächlich eine klare Aussage: Es soll bis Ende 2023 stehen. Da darf man gespannt sein.
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