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  • Christian Schultz-Gerstein

Diagramme einer verschütteten Welt

Glossen, Reportagen und Essays von Christian Schultz-Gerstein sind bei Tiamat wiederveröffentlicht

  • PeTer Nowak
  • Lesedauer: 3 Min.
Provokateur und stetiger Kritiker einer sich rechts wendenden liberalen Kulturelite
Provokateur und stetiger Kritiker einer sich rechts wendenden liberalen Kulturelite

Vermutlich am 3. März 1987 starb Christian Schultz-Gerstein. Er wurde erst fast drei Wochen später in seiner Hamburger Wohnung gefunden, nachdem sich Nachbar*innen wegen des strengen Geruch im Hausflur beschwert hatten. »Vermutlich hatte er sich zu Tode getrunken. Schultz-Gerstein war 42 Jahre alt«, schreibt der Verleger Klaus Bittermann im Nachwort eines nach 34 Jahren neuaufgelegten Bandes, der »den namhaften Reporter aus verflossenen Zeiten des deutschen Journalismus« so ein »FAZ«-Rezensent, wieder bekannt macht.

Die Lektüre der Glossen, Reportagen und Essays, die Schultz-Gerstein zwischen 1974 und 1987 verfasst hat, öffnet uns eine Welt, die heute sehr weit entfernt erscheint. Wir lesen von den großen und kleinen Kulturskandalen und lernen die Namen von heute kaum noch bekannten Personen kennen, wie die österreichische Schriftstellerin Marianne Fritz, deren monumentales literarisches Werk 1986 bei Suhrkamp verlegt wurde. Dass die Texte von Schultz-Gerstein damals gelesen wurden, zeigte sich dann, wenn er die Säulenheiligen des linksliberalen Feuilletons jener Jahre kritisierte. Seine Polemiken gegen den Schriftsteller Botho Strauss oder den damaligen Modephilosophen Peter Sloterdijk sind auch heute noch lesenswert. Hier liefert Schultz-Gerstein die Beschreibung einer sich nach rechts wendenden liberalen Kulturelite, die ihren Abschied von Kritischer Theorie und Frankfurter Schule nahm. Sie fand in Sloterdijk, der nach seinen Ausflug in die Esoterik zur zynischen Vernunft fand, ihr Idol. Dass Schultz-Gerstein sehr früh das reaktionäre Potenzial erkannte, das in diesem kulturpolitischen Umschlag steckte, schuf ihm Gegner, ja Feinde. Die linksliberalen Kulturpäpste jener Jahre, wie Wolfram Schütte in der »Frankfurter Rundschau« und Ulrich Greiner in der »Zeit« teilten heftig gegen den Provokateur aus.

Bald war er auch beim »Spiegel« angezählt. Als er mit der Drohung seiner Kündigung eine Versetzung als Korrespondent nach Liverpool erreichen wollte, gab man ihm die Papiere. Großzügig tilgte der Verlag Schultz-Gersteins hohe Spielschulden. Dafür revanchierte er sich mit einem Selbstgespräch, in dem er den »Spiegel«-Herausgeber Rudolf Augstein, mit dem er auch privat eng verkehrte, des Machtmissbrauchs und Herrenmenschentums bezichtigte. Dort ist die Schmach seiner Entlassung unverkennbar.

Zu seinen besten Texten gehört ein selbstkritischer Bericht über seine Reportage zum linken »Werkkreis Literatur der Arbeitswelt« , den er für die »Zeit« verfasst hat. Obwohl ihm das Engagement der Arbeiter*innen, »die sich organisiert haben, um ihr Schweigen zu brechen statt es in lallenden Leserbriefen an die Bild-Zeitung zu verweigern« sehr imponierte, beschrieb in der »Zeit« den Werkkreis als Organisation von Funktionär*innen und Vereinsmeiern. »Ich protestiere, ich möchte mir Vorwürfe machen wegen dieser Reportage, die meine wirkliche Meinung nicht wiedergibt. Aber die Vorwürfe gelingen mir nicht, weil ich meine wirkliche Meinung nicht mehr kenne«, beschreibt Schultz-Gerstein die Probleme eines Journalisten, der von einer proletarischen Selbstorganisation begeistert ist und gleichzeitig in linksliberalen Medien gedruckt werden will. Immerhin hatte er beim Lesen seines Textes im »Zeit«-Sound »Scham- und Schuldgefühle unbekannter Herkunft«. Vielleicht begann hier bereits »der langsame Tod eines Journalisten«, wie das Zeitgeistmagazin »Tempo« über das Ende ihres freien Mitarbeiters schrieb.

Betrauert wurde er vor allem von der kleinen Minderheit von Publizisten, die wie er gegen eine ehemalige Linke anschrieben, die ihren Frieden mit Deutschland gemacht hatten und von der NS-Vergangenheit nur noch an den Gedenktagen etwas hören wollten. Dazu gehört der vor drei Jahren verstorbene Wolfgang Pohrt, der in einen Vorwort daran erinnerte, dass Schultz-Gerstein zu den wenigen in Deutschland gehörte, die die Nazivergangenheit nicht bewältigen sondern als Wunde offen lassen wollten. Schultz- Gerstein starb mehr als zwei Jahre vor der Wende in der DDR, die in seinen gedruckten Texten kaum vorkommt. Seine wieder aufgelegten Texte lesen sich nicht nur überwiegend gut, sie sind auch Diagramme einer heute verschütteten Welt.

Christian Schultz-Gerstein: Rasende Mitläufer, kritische Opportunisten. Edition Tiamat, 448 S., br., 26 €.

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