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Wenn menschliche Herzen versteinern
Was eine Kritische Pädagogik gegen »bürgerliche Kälte« ausrichten könnte
Genüsslich ein Eis schleckend geht eine junge Passantin forschen Schrittes an zwei kriegsversehrten Straßenmusikanten vorbei - der eine beinlos auf einem simplen Rollgestell hockend, ein Akkordeon vor der Brust; der andere einbeinig, auf einem Stock gestützt um Almosen bittend. Sie würdigt die beiden keines Blickes. Eine Alltagsszene im bayerischen Fürth der unmittelbaren Nachkriegszeit, die berührt und aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Den Autor*innen des hier anzuzeigenden Buches gilt dieses Foto frei nach Walter Benjamin als »Denkbild«, zum Nachdenken auch heute. Denn es versinnbildlicht »bürgerliche Kälte«. Folgerichtig platzieren sie diese Aufnahme nicht nur aufs Cover ihrer Publikation, sondern unterziehen es einleitend einer Interpretation. Was »bürgerliche Kälte« meint und was Pädagogik möglicherweise gegen sie ausrichten kann, ist hier bereits zu erahnen.
Andreas Gruschka, ehemaliger Pädagogikprofessor in Frankfurt am Main, offeriert seine Überzeugung, wieso »bürgerliche Kälte« als zentrale Kategorie einer Kritischen Pädagogik im Anschluss an Theodor W. Adorno zu gelten habe. Sie werde bereits im Märchen »Das kalte Herz« von Wilhelm Hauff metaphorisch verdeutlicht, in dem ein einfacher Köhler zum egoistischen Kapitalisten mutiert, als er sein warmes Herz gegen einen kalten Stein tauscht. Profit lässt Menschlichkeit nicht zu. Für eine Kritische Pädagogik sei es wichtig, so Gruschka, zu untersuchen, welche Strategien Menschen entwickeln, um sich in diesem Widerspruch einzurichten und sich dennoch als sittliche Menschen zu fühlen.
Ein Gutteil des Buches widmet sich folglich besonderen Formen bürgerlicher Kälte und dem Umgang mit diesen, insbesondere im Bildungswesen, aber auch in der Krankenpflege. Die Erfahrung, dass schon in der Schule die gelehrten moralischen Werte wie Gleichheit, Solidarität und Würde stetig verletzt und verraten werden, dürfte Allgemeingut sein. Bereits Jugendliche werden darauf getrimmt, nicht zu weichherzig zu sein, um sich später in der bürgerlichen (Ellenbogen-)Gesellschaft zu behaupten.
Das setzt sich im Berufsleben fort, wie Marion Pollmanns in ihren Ausführungen zum »Coolout« in der Krankenpflege zeigt. Der Beruf der Krankenpflegerin beziehungsweise des Krankenpflegers wird zwar allgemein von jenen, die ihn ergreifen, mit Empathie für Leidende, Hilfsbedürftige, mit uneigennütziger Betreuung, Pflege und Solidarität assoziiert, was jedoch im realen Alltag oftmals nicht zu praktizieren ist. Eine neoliberale Gesundheitspolitik führt die edelsten Intentionen ad absurdum.
Eine weitere Studie wertet die Kälteerfahrungen von 30 Auszubildenden im Pflegeberuf aus. Der Befund: Vielfach wird Idealismus und Leidenschaft von Resignation verdrängt. Die Situation wird reflektiert, doch Protest dagegen erhebt sich kaum. Im Buch wird dies mit den etwas sperrigen Begriffen wie »fraglose Übernahme«, »Idealisierung falscher Praxis«, »reflektierte Hinnahme« gefasst.
Zweifellos hat die »bürgerliche Kälte« in Zeiten der Pandemie weiter zugenommen. Eine aktualisierte Untersuchung hierzu wäre sicher spannend. Das Verdienst der Autor*innen dieses Bandes ist es, ein wichtiges Thema Kritischer Pädagogik wiederbelebt und mit Fakten untermauert zu haben.
Andreas Gruschka/Marion Pollmanns/ Christoph Leser (Hg.): Bürgerliche Kälte und Pädagogik. Zur Ontogenese des moralischen Urteils. Verlag Barbara Budrich, 263 S., geb., 34,90 €.
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