Der Chor der Geschichte

Das Revolutionsrequiem »Pfad des Oktober« von Prokoll und Bertolt Brechts Lehrstück »Die Maßnahme« werden in einer deutsch-russischen Koproduktion in der Philharmonie Berlin gezeigt

Über Bertolt Brecht wird seit jeher gestritten. Das liegt bei einem Schriftsteller mit Haltung und künstlerischer Radikalität in der Natur der Sache. Seit nunmehr 90 Jahren entbrennen aber die heftigsten Streitgespräche um sein Lehrstück »Die Maßnahme«. Den einen war es das szenische Durchspielen einer totalitären Logik, den anderen kritische Vorwegnahme der Schauprozesse Stalin’scher Herrschaft. Die einen vermochten darin eine Neuerfindung der darstellenden Kunst zu sehen, die anderen beargwöhnten den pädagogischen Impetus. Brecht selbst soll das Stück als ein Modell für das »Theater der Zukunft« bezeichnet haben. Und hat nach dem Zweiten Weltkrieg sämtliche Aufführungen seines Lehrstücks untersagt. Widersprüche allenthalben.

Die Brutalität des Stoffes und der Sprache sind Angriffsflächen für die Kritik. Dass die erste Generation der RAF sich in Stammheim in ihren Kassibern Phrasen aus dem Text entliehen, hat zum Status als Skandalstück beigetragen: »Nicht andere nur, auch uns töten wir, wenn es nottut.«

Das Lehrstück, das als Lernprozess für die Spielenden gedacht war, in dem Haltungen ausprobiert, Konflikte erfahrbar gemacht werden sollten, dreht sich um das Verhältnis von Individuum und Konflikt. Vier Agitatoren begeben sich vor den Kontrollchor. Spielend-erzählend rechtfertigen sie, wie es zu der titelgebenden Maßnahme, der Hinrichtung des jungen Genossen, gekommen ist. Getarnt kamen sie von Russland nach China, wo die brutalste Ausbeutung herrscht, um dort Propagandaarbeit zu leisten. Der junge Genosse aber widersetzt sich der verordneten Taktik und bringt dadurch alle in Gefahr. Zuletzt töten die vier Agitatoren ihn - mit seinem Einverständnis.

»Die Maßnahme« ist Gegenstand vielzähliger akademischer Auseinandersetzungen. An theater- und literaturwissenschaftlichen debattenfreudigen Beiträgen dazu mangelt es also nicht. Allerdings - wer wagt sich heraus, den strittigen Text, inklusive der herausragenden Musik von Hanns Eisler, nicht theoretisierend zu betrachten, sondern ganz praktisch auf die Bühne zu bringen?

Die Theaterregisseurin Fabiane Kemmann ist so jemand, die dieses Stück Literatur nicht loslässt. Und als Lernende - ganz wie von Brecht gedacht - nähert sie sich dem Text immer wieder an. 2016 hat sie »Die Maßnahme« im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie in Originalbesetzung spielen, sprechen, singen lassen. Was bedeutet das: Originalbesetzung? Brechts Lehrstückansatz folgend, hat sie nicht vornehmlich professionelle Künstler auf die Bühne gestellt, sondern die Zusammenarbeit mit Laienchören gesucht. Um die 300 Choristen waren beteiligt, und »Die Maßnahme« wurde erstmals seit den 30er Jahren wieder so gezeigt, wie von Brecht erdacht.

Als das Stück im Dezember 1930 in der alten Philharmonie uraufgeführt wurde, war das schon ein Kompromiss, den der Autor - man kann es sich vorstellen - kaum schätzte. Eigentlich hielt Brecht für ein Werk dieses Kalibers eine Doppelpremiere für angemessen: eine zeitgleiche Vorstellung in Berlin und in Moskau.

Brechts Freund, der Schriftsteller Sergej Tretjakow, besorgte eine russische Übersetzung, die eher als literarische Bearbeitung eines Künstlerkollegen gelten kann. Schon der russische Titel, eher in der Bedeutung »Das höchste Maß«, macht das deutlich. Kurz gesagt: Die Moskauer Aufführung durfte nicht zustande kommen. Die Übertragung von Tretjakow, der den Stalin’schen Säuberungen zum Opfer fiel, geriet in Vergessenheit. Kemmann hat sie aus den Archiven gefischt - und ihr zu ihrem Recht auf der Bühne verholfen.

Am renommierten Meyerhold-Zentrum in Moskau konnte sie Brechts Stück in Tretjakows Worten erstmals zu Gehör bringen. Auch in Russland hat sie mit Laien gearbeitet und ihnen einen in dem Land weitgehend unbekannten Text nahegebracht. Mit Peter Aidu als musikalischem Leiter hat sie dafür einen kongenialen Partner gefunden.

Was Aidu und Kemmann verbindet, ist ein Geschichtsbewusstsein, das die linken Avantgarden in Deutschland und Russland vor 100 Jahren nicht leugnet, auch wenn die Moden derzeit andere Themen diktieren wollen. So hat Aidu auch das »Persimfans« neu formiert. Von 1922 an existierte in der Sowjetunion für zehn Jahre ein dirigentenloses Theater als Ausdruck neuer Vorstellungen von Kunst und Kunstproduktion. Seit 2008 wirkt Aidu an einer Neuauflage des Konzepts mit.

Er ist es auch, der »Pfad des Oktober«, ein Kantatenwerk des sowjetischen Komponistenkollektivs Prokoll, das als verschollen galt, wiederentdeckte. In Russland hat Aidu jenes Opus aufgeführt, an dem zwölf Komponisten arbeiteten, darunter Sara Lewina, Alexander Davidenko und Boris Schechter. Und das in Vertonungen der Werke von zwölf Dichtern - Maxim Gorki, Alexander Blok und Wladimir Majakowski zählen dazu - die Geschichte der Revolution, mythisch aufgeladen, erzählt. Mit dem gescheiterten Vorläufer, der Revolution von 1905, nimmt die musikalische Erzählung ihren Anfang, kreist um das Schicksalsjahr 1917 und wird fortgesetzt bis zu Lenins Todesjahr 1924.

Die fast religiöse Überhöhung der Revolution und die Vorführung einer revolutionären Logik, die die Opfer in den eigenen Reihen gebiert, funktionieren kontrapunktisch. Kemmann und Aidu lassen »Pfad des Oktober« und »Die Maßnahme« an einem Abend zeigen - als ein Ganzes, das seine beiden Seiten kennt. So viel Dialektik muss sein bei der Revolutionsbetrachtung im 21. Jahrhundert. Was sie hier zusammenbringen, ist ein künstlerisches Wagnis. Konsequent weitergedacht, muss es natürlich russische wie deutsche Künstler einbeziehen.

Über die verheerende Wirkung der Corona-Pandemie auf Theaterarbeiten wurde vieles bereits gesagt. Dass die Bedingungen für ein binationales Unterfangen mit vielköpfigen Chören besonders schwierig gewesen sein dürften und immer noch sind, wird jedem einleuchten. Die Arbeiten haben sich hingezogen. Kemmann hat in Deutschland versucht, den Probenprozess aufrechtzuerhalten, Aidu hat seinen Teil in Moskau getan. Wenn nichts mehr möglich war, wurde digital geprobt und dafür kein technischer Aufwand gescheut. Die allgemeine Beruhigung der Lage machte es dann auch möglich, wieder zu reisen.

Im November vergangenen Jahres konnte es mit gut 90-jähriger Verspätung also eine Berlin-Moskauer Doppelpremiere geben. »Pfad des Oktober«, das Fabiane Kemmann übersetzt hat, und »Die Maßnahme« wurden auf Russisch und Deutsch in beiden Städten gleichzeitig gespielt, wobei Live-Übertragungen sogar über die endlos scheinende Distanz hinweg das ineinandergreifende Spiel miteinander möglich gemacht haben. 100 russische Choristen, ebenso viele in Deutschland waren involviert.

Am Sonntag wird in der Philharmonie ein weiteres Format ausprobiert. Die zwei Revolutionsstücke werden von russischen und deutschen Künstlern vor Ort gemeinsam gegeben. Verschiedene Laienchöre werden dabei mitwirken, und auch das Orchester »Persimfans« ist dabei. Die Arbeit von Fabiane Kemmann zeigt vor allem eins: dass Theater und Geschichte Erfahrungsprozesse sind, dass uns der erste Schritt beim zweiten helfen kann, wenn wir uns erinnern wollen.

Nächste Vorstellung: 30.1.

www.berliner-philharmoniker.de

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