Nehmen, was übrig bleibt

Bei aller Kritik an der Vergabe nach Peking lohnt ein Blick in die Bewerbungshistorie: Im Westen wollte niemand diese Spiele ausrichten, die Gründe dafür lieferte das IOC

»Wir Sportler müssen das ausbaden, was das IOC nicht hinbekommen hat«, schimpfte Biathlet Erik Lesser kurz vor seiner Abreise zu den Olympischen Spielen in Peking. »Wir müssen kritische Töne von uns geben - was Thomas Bach als IOC-Präsident nicht schafft.« Der Frust bei den Athleten ist offenbar groß, ebenso bei Menschenrechtsorganisationen sowie Politikern. Und Schuld an allem trage das Internationale Olympische Komitee unter seinem deutschen Chef. Warum habe er die Spiele nicht einem Land gegeben, das die Menschenrechte einhält, eine lupenreine Demokratie ist, in dem alle Sportstätten vorhanden sind und die Energie für deren Betrieb aus klimaneutralen Quellen stammt?

Eins ist klar: Ein solches Land existiert nicht. Dennoch gäbe es bessere Alternativen als Peking, das alles andere als ein traditioneller Wintersportort ist. Doch als die IOC-Mitglieder am 31. Juli 2015 über den Ausrichter der Winterspiele 2022 abstimmen sollten, standen nur Chinas Hauptstadt Peking und Kasachstans Metropole Almaty zu Wahl.

59 Prozent der Deutschen sind laut Umfrage von YouGov der Meinung, die Winterspiele hätten nicht nach China vergeben werden dürfen. Wohl nur ein Bruchteil von ihnen weiß noch, was die Alternative war. Betrachtet man die jüngsten Gewaltausbrüche samt Einmarsch russischer Truppen im autokratisch regierten Kasachstan, dürfte nicht nur das IOC froh sein, dass man sich einst mit 44:40 Stimmen knapp für Peking entschieden hatte.

Negative Umfragen

Warum aber gab es nur diese zwei Kandidaten? Interessenten - auch im Westen - hatte es schließlich viele gegeben. Deutsche Sportfunktionäre und Athleten erinnern derzeit regelmäßig daran, dass sich auch München für die Olympiaausgabe 2022 bewerben wollte. Doch die Menschen in allen vier dafür vorgesehenen Landkreisen lehnten dies bei einem Bürgerentscheid im November 2013 ab. Dabei hätte es Schanzen, Biathlonstadien, alpine Liftanlagen und Bobbahnen hier schon gegeben. Ein milliardenschwerer Neubau wie jetzt rund um Peking wäre nicht nötig gewesen. Auch die Herstellung von Kunstschnee würde in Bayern in kleinerem Rahmen ausfallen. Die internationale Kritik an Menschenrechtsverstößen fällt hier ebenso geringer aus als für China.

Ähnliches gilt in der Schweiz, Schweden oder Polen. Die Bürger im Kanton Graubünden lehnten Olympia jedoch ab, so auch die in Stockholm und Kraków. Hauptkritikpunkt an Olympia vor der eigenen Haustür war immer das Geld. Schon die Bewerbungskosten vor einer Abstimmung waren siebenstellig, dazu grenzten die Anforderungen an den Sportstättenbau an Größenwahn. Die Angst etwa, eine Eishockeyhalle mit Platz für mehr als 10 000 Fans würde danach nie mehr genutzt, war verständlicherweise groß.

Auch Oslo wollte sich mit dem Holmenkollen, dem vielleicht traditionellsten Skiort überhaupt, bewerben. In Norwegen legte aber das Parlament den Riegel vor, als Dokumente an die Oberfläche kamen, denen zufolge die IOC-Mitglieder eine Luxusbehandlung auf Kosten der lokalen Organisatoren eingefordert hätten.

Unzeitgemäßer Gigantismus

Wenn also Funktionäre - wie Franz Steinle, Präsident des Deutschen Skiverbands, jüngst im nd-Interview - meinen, die Menschen in Ländern wie Deutschland hätten die Olympischen Spiele einfach nicht haben wollen, dann ist das zu kurz gegriffen. Für die Ablehnungsgründe hatte das IOC mit seinen den Gigantismus fördernden Anforderungen schließlich selbst beigetragen. Zudem war das Timing äußerst ungünstig. Die vielen Referenden in Westeuropa fielen in den Zeitraum rund um die Winterspiele 2014 in Sotschi, als Russland für mehr als 30 Milliarden Euro (später kaum genutzte) Sportstätten sowie Schnellstraßen und Zugstrecken in kaukasische Flussbetten rammen ließ.

Als Thomas Bach danach die »Agenda 2020« im IOC durchsetzte, war das Kind längst in den Brunnen gefallen. Bewerbungen sind heute billiger. Zumindest auf dem Papier wird mehr auf Nachhaltigkeit geachtet. Und die Einhaltung der Menschenrechte soll schon in den Abstimmungsprozess integriert werden. Nach der Vergabe an Peking fing das IOC jeden westlichen Kandidaten ein, der vorsichtig Interesse zeigte, und gab ihm - teilweise ohne auf Gegenkandidaten zu warten - schnell die Spiele: 2024 Paris, 2026 Turin, 2028 Los Angeles, 2032 Brisbane. Hauptsache die Diskussionen um Sportswashing in vermeintlichen Diktaturen nehmen ein Ende.

Für 2022 kam die langsam umgesetzte Reform zu spät, an Peking führte kein Weg mehr vorbei. Also wurde wieder die Boykottfrage gestellt, die sogar Olympiasiegerinnen wie Rodlerin Natalie Geisenberger rätseln ließ. Sie habe lange nachgedacht, sich dann aber für einen Start entschieden: »Ich habe alles gegeben, meine Familie hat mich bedingungslos unterstützt«, schrieb sie bei Instagram. »Jetzt so kurz vor dem Ziel aufzugeben, wäre nicht richtig.« Die Athleten, die vier Jahre auf diesen Wettbewerb hinarbeiteten, haben Peking nie gewählt. Trotzdem wird von ihnen verlangt, Chinas Menschenrechtspolitik zu kritisieren. Von Thomas Bach ist derlei weiter nicht zu erwarten. Und selbst die deutsche Bundesregierung hat bislang keine klare Aussage pro oder contra Boykott gewagt.

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