- Kultur
- RTL-Dschungelcamp
Dschungel-Gulag als Chance
Die Proletarisierung des Kleinbürgertums beim »Dschungelcamp«
Einmal im Jahr werden Promis, die keiner kennt, für zwei Wochen in den Dschungel verfrachtet und dem Leben des proletarischen Lohnarbeiters ausgesetzt. Was hierzulande Alltag für Millionen ist - körperliche Schinderei, unkomfortables Wohnen, Schlaflosigkeit auf unbequemen Matratzen, schlechtes Essen, Ausbeutung für einen Hungerlohn, Ekelprüfungen wie Bewerbungsgespräche oder das Vorstelligwerden beim Arbeitsamt -, wird den Dschungel-Promis als Campingurlaub aufgebunden. Der Weltgeist wird sich schon was dabei gedacht haben.
Was sonst beflissen aus Filmen, Wohlfühl-Serien und TV-Shows herausgehalten wird - der eintönige, nur mittels Klatsch, Tratsch und kleinen Gehässigkeiten gegenüber den Kollegen gewürzte prekäre Arbeitsalltag -, steht hier ausnahmsweise im Fokus. In den »Dschungel-Prüfungen« werden die Kandidaten gerade jenen Strapazen, Widerlichkeiten, Gesundheitsrisiken und Selbsterniedrigungsexzessen ausgesetzt, die für das Proletariat Normalität sind. Was hier empört, interessiert im wirklichen Leben sonst keinen.
Das Dschungelcamp ist eine der wenigen Sendungen im Hauptprogramm, in der die sonst als »asozial«, »prekär« oder »bildungsfern« Geltenden in den Hauptrollen und nicht bloß als zu betreuendes und zu maßregelndes Ärgernis auftreten: Hier gibt es angenehmerweise keine kultivierten Menschen, keine Intellektuellen. Hier werden keine weltpolitischen Fragen geklärt, hier wird nicht Foucault mit Adorno gelesen, nicht die Pandemie per Facebook-Post bekämpft. Sondern Linda und Janine streiten sich »ohne Grund«, weil es eben zum Dschungel dazu gehört.
Der Y-Promi wird hier, im Dschungel und ohne Wohnung, zum temporär Obdachlosen. Aber am wärmenden Lagerfeuer findet er zu seinesgleichen. Im Camp ist sich jedes Arschloch selbst das nächste, der größte denkbare Horror ist erreicht: normale Menschen, die einfach normal sind.
Doch die Proletarität, die hier mehr inszeniert als ausgelebt wird, ist, weil sie eine bloß kurzzeitige, eine bloß geistige, keine materielle ist, eine unwirkliche: Was im »Dschungelcamp« auftritt, um sich als Persona zu inszenieren, mit der Hoffnung, auf dem Medienmarkt verwertbar zu werden und sich selbst zu »monetarisieren«, ist jener »reiche Pöbel« (Hegel), der seinen Wohlstand bloß dank externalisierter Mobbing-Bedürfnisse des TV-Publikums aufrecht erhalten kann.
Für alle Merzads und Anetas
Andreas Meinzer verteidigt das »Unterschichtenfernsehen«
Reicher Pöbel im Camp: Es zeigt sich, worauf die Sache aus ist. Man hat es hier mit einer vorrevolutionären Gewöhnungsphase zu tun. Der altgediente Arbeiterbewegungssender RTL, bekannt durch das Proletariat ermächtigende Sendungen wie »Team Wallraff«, »Mario Barth deckt auf« und »Wer wird Millionär?«, will die kleinbürgerlichen Reichen, Halb-Reichen, Promis und Halb-Promis schon einmal schonend auf die Zeit nach der Revolution einschwören: Das Dschungelcamp ist eindeutig als Modell jener Lager zu entschlüsseln, die letztes Jahrhundert als »Gulags« bekannt wurden. Hier versammeln sich nicht, wie in Gefängnissen bürgerlicher Staaten, verelendete Tagediebe, Ticketfälscher, Schwarzfahrer und Kaufhausdiebe, sondern solche Gestalten, die die Welt zur Hölle machen - und das gnädigerweise auch weiterhin dürfen, nur eben, abgetrennt vom Rest der Welt, im Urwald.
Die Insassen haben die Möglichkeit, in die Gemeinde derer zurückzukehren, die durch physische Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen. Das Dschungel-Gulag bietet den hoffnungslos in die Promi-Hölle Verdammten die Gelegenheit der Katharsis, des Wieder-menschlich-Werdens qua zweiwöchiger Subsistenzwirtschafts- wie Ausbeutungserfahrung und der Aussicht, danach als vollwertig resozialisierte Mitglieder im Arbeiter-und-Bauern-Staat anerkannt zu werden. Josef Stalin hätte die Sendung gefallen - wenngleich er datenschutzrechtliche Bedenken gehabt hätte, mittels Kameras und Mikrofonen jede Regung der Insassen aufzuzeichnen und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Das hat es in Sibirien nicht gegeben.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.