Eigentlich ein Lieber

Berlinale-Sektion Generation: Der Dokumentarfilm »Kalle Kosmonaut« begleitet den jungen Pascal aus Berlin-Marzahn

"Kalle Kosmonaut": zu klug zum Fertigsein in Berlin-Marzahn
"Kalle Kosmonaut": zu klug zum Fertigsein in Berlin-Marzahn

Manchmal passt ein ganzes Leben auf einen kleinen Zettel. »Hi Pascal, bitte nach der Schule anrufen. Hausaufgaben machen. Nach der Arche zu Tante Ines, Abendbrot essen. Mappe packen, Schlafanzug anziehen! Bis heute Abend, Mama.« Diese Notizen, von denen es zahlreiche gibt, sind Zeugnisse von Fürsorge, vom Kümmern und vom Dasein, obwohl man nicht da ist. Pascal, den alle Kalle nennen, ist ein Schlüsselkind, seine Mutter, alleinerziehend, arbeitet Vollzeit im Baumarkt. Irgendwie müssen ja die Miete, das Essen, der Strom, das ganze Leben bezahlt werden. Wenn die Mutter nach Hause kommt, spielen die beiden Uno. Was auf dem Zettel nicht steht, ist ihr schlechtes Gewissen, keine gute Mutter zu sein, weil sie so selten da ist. Dabei gibt sie schon ihr Bestes, das merkt man.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Der Dokumentarfilm »Kalle Kosmonaut« des Filmemacher*innenduos Tine Kugler und Günther Kurt begleitet Pascal durch die Pubertät und noch ein Stück weiter. Am Anfang ist er zehn Jahre alt, am Ende des Films 20. Kugler und Kurt begegneten Kalle im Jahr 2010 schon einmal für die ZDF-Reportagereihe »37 Grad - Pascal allein zu Haus«, ein Film über Kinder, die früh selbstständig werden müssen, weil ihre Eltern selten zu Hause sind. Der Kontakt riss nie ab, und so entstand ein Langzeitporträt eines Jungen, dessen Leben sich entlang der Allee der Kosmonauten im Berliner Stadtteil Marzahn abspielt. Eine Jugend zwischen Basketballplatz, Heizungsrohren und Tram-Haltestelle. Nie war klar, wie und an welcher Stelle der Film enden wird, ob der Kontakt irgendwann abreißt, weil Kalle keine Lust mehr hat. Kalle blieb dran, zehn Jahre lang.

Er ist ein aufgewecktes Kind und wird es auch als Jugendlicher bleiben, wie der Film zeigt. Dann aber kommen die Drogen ins Spiel. Kalle rastet aus und landet im Knast. »Eigentlich ein ganz Lieber«, wird eine sympathische Polizistin über ihn sagen, die als Streife im Kiez Kalle jahrelang erlebt. »Eigentlich«, ein Adverb, das sonst nach Stereotypen verlangt: zu klug, um im Plattenbau zu vergammeln; zu schlau für die ewig gleiche Schleife aus Glotze, Suff und Drehtabakreste-aus-den-Fugen-des-Fliesencouchtischs-Kratzen. Und genau von dieser bürgerlichen Mitleidigkeit distanziert sich der Film. Er zeigt eine Familie, die füreinander da ist, in der allen - und das sieht man ihren Gesichtern und Körpern an - viel Mist passiert ist, die aber nicht kapitulieren, sondern immer weitermachen, die immer wieder den Arsch hochkriegen, auf gut Deutsch gesagt.

Günther Kurts Kamera schafft Nähe, die immer liebevoll auf ihre Protagonisten blickt. Wenn Kalles Mutter in der Küchentür stehend auf Russisch frontal in die Kamera singt, Kalle und seine Freunde im Park fürs Bild posieren oder Kalle mit seinem Pubertätsgesicht direkt ins Objektiv vom Traum eines guten Lebens spricht, dann ist offensichtlich, dass Kugler und Kurth unzählige Gespräche geführt haben, bei Treffen dabei waren, die später niemals auf Kamera auftauchen sollten, die aber Vertrauen schufen, das Gold wert ist in diesem Genre, sodass am Ende eben ein Juwel der Sozialreportage dabei herauskam.

Kalle ist anders als die anderen. Er reflektiert, was sich vor ihm abspielt, was mit ihm passiert, dass er Angst hat. Diese Fähigkeit ist wohl vor allem seiner liebevollen Mutter zu verdanken - neben Kalle die zentrale Figur des Films, ähnlich wie der ewig abwesende leibliche Vater. Eine Mutter, die das fast Unmögliche geschafft hat. Die aus den Mustern der eigenen Kindheit ausgebrochen ist und ihre schlechten Erfahrungen nicht auf Kalle übertragen hat, sondern es besser machen wollte. Eine, die aufgewachsen ist in einem Haushalt von Trinkern, die darüber zwar nicht reden will, aber genau das alles erklärt. Zu Kalles 18. Geburtstag, den er im Gefängnis verbringt, zündet sie mit ihrem Lebensgefährten auf dem Balkon eine Rakete für ihn. Scheiß drauf, was die Nachbarn sagen.

Kalles Zeit im Gefängnis nutzen die Filmemacher*innen, um der Familie näherzukommen, und das ist ein enormer Gewinn für die Dokumentation. Denn Kalles gesamte Familie bietet ein berührendes Panoptikum aus Liebe, Schuld, Reue, Resignation und Zuversicht.

»Kalle Kosmonaut«: Deutschland 2022. Regie und Buch: Tine Kugler, Günther Kurt. 99 Min. Termine: Sa 12.2., 9 Uhr/17.30 Uhr: Cubix 3/8; So 13.2., 14 Uhr: Cineplex Titania; Do 17.2., 12 Uhr: Cinemax 1/2; So 19.2., 9.30 Uhr: Filmtheater Friedrichshain.

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