Was heißt da noch Wahrheit?

Informationsflut und Meinungsgerangel: Wie sich Diskurse und Identitäten durch die Digitalisierung verändern und warum die Philosophie in Corona-Zeiten von Nutzen sein kann

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Digitalisierung begann schon lange vor der Pandemie, doch mit Corona drang sie noch selbstverständlicher ins Persönliche: Videokonferenzen, statt ins Büro zu fahren, online einkaufen statt Supermarkt um die Ecke und abends zur Ablenkung Streaming-Dienste nutzen. Dass Rechner und Smartphone speichern, wie wir uns verhalten? Wird schon so sein, doch erst mal nimmt man’s hin. Was bleibt einem auch anderes übrig?

Prof. Dr. Byung-Chul Han, 1959 in Seoul geboren und schon lange in Deutschland lebend, beschäftigt sich schon seit Längerem mit den Folgen der Digitalisierung. Das »Informationsregime« als »Herrschaftsform« kommt weitgehend ohne jene Unterdrückungsmechanismen aus, die für Disziplinarregime früher üblich waren und noch sind. Wir fühlen uns frei, alles scheint transparent. Aber: Die Transparenz, schreibt Han, »hat eine Rückseite. Der Maschinenraum der Transparenz ist dunkel.«

Hans Erfolgsgeheimnis ist es, schlüssige Formulierungen für Dinge zu finden, die von vielen geahnt oder gefühlt werden. Nimmt man allein die bei Matthes & Seitz erschienenen Bände »Müdigkeitsgesellschaft«, »Transparenzgesellschaft«, »Agonie des Eros«, »Im Schwarm«, »Palliativgesellschaft«, um nur einige zu nennen, überzeugt seine Methode, von Alltagsbeobachtungen auszugehen. Er durchdenkt, was ihm auf der Seele liegt, und schreibt, ohne sich in den Fachdiskurs einzuschließen.

Ganz seinen Reflexionen hingegeben, sucht er für sich den präzisen Ausdruck und bringt Lesende genussvoll auf eigene Gedankenwege. Er konstatiert: »Die Herrschaft des Informationsregimes verbirgt sich, indem sie mit dem Alltag ganz verschmilzt. Sie versteckt sich hinter der Gefälligkeit der sozialen Medien, der Annehmlichkeit der Suchmaschinen, den einlullenden Stimmen der Sprachassistenten oder der zuvorkommenden Dienstfertigkeit smarter Apps.«

Das Netz birgt aber auch scheinbare Chancen. Denn es bietet gleichsam allen einen Platz, sich mit ihren Meinungen darzustellen. Es sieht so aus, als ob dadurch Privilegien gebrochen würden. Ein Demokratiegewinn? Wäre es so, woher rühren dann die Ohnmachtsgefühle, die Unversöhnlichkeiten zwischen Menschen in vergleichbarer sozialer Lage?

Der Kampf im Internet ist kein Klassenkampf mit der Forderung nach Umverteilung von oben nach unten. Im Gegenteil: Die da oben können ruhig ihr Ding machen, während die da unten mit sich selbst beschäftigt sind. Aber darum geht es im Buch nur am Rande. Auch die Konkurrenz im Milieu der Kreativen, dieser Kampf um Aufmerksamkeit, spielt kaum eine Rolle. Han geht der Frage nach, wie sich die Geschwindigkeit digitaler Medien auf unser Lebensgefühl auswirkt, wie sich der Alltag verändert, wenn wir gleichsam auf »Speed« sind. Man schaut auf das Smartphone und hört einander kaum zu. Ausführliche, gar schwierige Texte zu lesen, stößt zunehmend auf Unwillen und Unvermögen, wenn das Häppchenwissen aus dem Internet für den Moment genügt.

Auch wenn die Branche es nicht wahrhaben will: Das Buch ist dabei, seinen Platz als Leitmedium zu verlieren. Das hat weitreichenden Folgen. Eine Aussage des US-amerikanischen Medienwissenschaftlers Neil Postman (1931-2003) trifft es genau: »In einer vom Buchdruck bestimmten Kultur zeichnet sich der öffentliche Diskurs in der Regel durch eine kohärente, geregelte Anordnung von Tatsachen und Gedanken aus.« Die elektronischen Massenmedien aber, so Han, »zerstören den von der Buchkultur geprägten rationalen Diskurs … Das Amüsement bestimmt die Vermittlung politischer Inhalte und untergräbt die Rationalität.«

Mit dem Ideal einer allseits gebildeten Persönlichkeit sah sich die DDR als Erbin frühbürgerlicher Utopien. In der spätbürgerlichen Gesellschaft aber ist ein für den jeweiligen Arbeitsplatz ausreichender Bildungsgrad genug. Der Markt kommt mit »niedrigschwelligen« Angeboten einem Massenpublikum entgegen, dem Emanzipation im Sinne von Kultivierung nicht mehr zugesprochen wird.

Sogenannte Hochkultur ist Eigentum einer kleinen Schicht. Mit der Digitalisierung erreichte dieser Prozess eine Steigerung. Wieder Han: »Der Beschleunigungszwang, der Informationen innewohnt, verdrängt zeitintensive kognitive Praktiken wie Wissen, Erfahrung und Erkenntnis.« Denn: »Affekte sind schneller als Rationalität. In einer Affektkommunikation setzen sich nicht bessere Argumente, sondern Informationen mit größerem Erregungspotenzial durch.«

Im Sinne der Verkäuflichkeit begannen auch sogenannte Qualitätszeitungen mit visuellen Reizen zu punkten. Keine »Bleiwüsten« mehr, stattdessen große Bilder mit Schauwert. Agenturen liefern diese entsprechend dem Trend, und Fotografen wissen, was gefragt ist. Dass Fotos im Zeitalter digitaler Möglichkeiten nicht mehr verlässlich sind, ja ein manipulierendes Potenzial besitzen, kommt Betrachtern oft nicht zu Bewusstsein. Es sei denn, Medien übertreiben in ihrer »pädagogischen« Absicht. Dann schlägt das Pendel ins Gegenteilige aus. Zur Spaltung der Gesellschaft in Corona-Zeiten, so meine These, hat auch eine aufs Eindeutige forcierte Fernsehberichterstattung beigetragen.

Laut einer Forsa-Umfrage sind 71 Prozent der Bundesbürger wegen Corona schon einmal mit anderen in Streit geraten. 56 Prozent sogar mehrmals. Bei 85 Prozent der Befragten sei es um Impfpflicht oder -verweigerung gegangen. In Berlin-Kreuzberg gibt es eine Beratungsstelle für Leute, die sich in der Konfrontation mit wirren Theorien von Angehörigen, Freunden oder Kollegen hilflos fühlen. »Veritas« (Wahrheit) heißt sie. Was aber, wenn vermeintliche Wahrheiten einander gegenüberstehen?

Han hat wohl recht, wenn er schreibt, Diskurs sei Kommunikation und brauche die »Gegenwart des Anderen«. Ohne diese »ist meine Meinung nicht diskursiv, nicht repräsentativ, sondern autistisch, doktrinär und dogmatisch«. Gerade DDR-Sozialisierte haben das erfahren. In Zeiten gesellschaftlicher Krise - die DDR-Führung fühlte sich permanent bedroht - lässt Ideologie ein Andersdenken kaum zu. Der Westen bezog seine Anziehungskraft nicht zuletzt aus Meinungsfreiheit und -vielfalt. Ist diese am Verblassen, weil nur gelten soll, was richtig und geboten ist?

Es mag wohl stimmen, wie es bei Han heißt, dass ein wirklicher Diskurs das Vermögen voraussetzt, die eigene Meinung von der eigenen Identität abzutrennen und sich in andere hineinzuversetzen. »Die Menschen, die diese diskursive Fähigkeit nicht besitzen, halten krampfhaft an ihrer Meinung fest, weil sonst ihre Identität bedroht ist.« Aber wird Identität nicht auch aus Überzeugungen gebildet?

Dass »die Krise der Demokratie in erster Linie eine Krise des Zuhörens« sei, ist eine Vereinfachung. Denn es klammert Herrschaftsverhältnisse aus. Aber dass ein »Kult des Selbst« die Gesellschaft spaltet, ist unbestritten. Umso mehr, da selbstbezogene Individuen im Netz Möglichkeiten finden, sich mit Gleichgesinnten zusammenzutun. Solche »tribalistische Identitätskollektive« lehnen dann jeden Diskurs, jeden Dialog ab. Es geht um Zugehörigkeit, Glaube und Bekenntnis. Die Gesellschaft zerfällt in unversöhnliche Identitäten, zwischen denen keine Verständigung, ja nicht einmal eine »verbindliche Bezeichnung der Dinge« mehr möglich ist.

Was heißt da noch Wahrheit? »Die digitale Ordnung schafft generell die Festigkeit des Faktischen, ja die Festigkeit des Seins ab, indem sie die Herstellbarkeit totalisiert.« Unter den Bedingungen sozialer Spaltung, informiert und trotzdem orientierungslos, gleiten weite Teile der Bevölkerung in eine Parallelwelt der Ressentiments. Die Folgen sehen wir schon. Sie könnten noch gravierender werden. Wozu brauche ich da noch Philosophen wie Han? - Damit sich die Nebel lichten über der Welt ringsum, dieser Welt, die sich rasant verändert, so viel Explosives in sich birgt und dabei wie festgefroren scheint.

Byung-Chul Han: Infokratie. Digitalisierung und die Krise der Demokratie. Matthes & Seitz, 91 S., br., 10 €.

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