»Russland ist sehr düster geworden«

Wie fühlt man sich als russische Punkband heute? Ein Gespräch mit Dmitri Spirin von Tarakany!

  • Ardy Beld
  • Lesedauer: 8 Min.
Wo geht’s hier zum Protestsong? Dmitri Spirin bei einem Auftritt von Tarakany! 2019 beim »Wild Mint Festival« in Bunyrevo bei Tula
Wo geht’s hier zum Protestsong? Dmitri Spirin bei einem Auftritt von Tarakany! 2019 beim »Wild Mint Festival« in Bunyrevo bei Tula

Der Fall Andrej Borowikow hat im vergangenen Jahr gezeigt, dass in Russland bereits Gefängnis droht, wenn man ein Video der Gruppe Rammstein im Internet teilt. Was sagt das über den Zustand Ihrer Heimat?

Dmitri Spirin
Dmitri Spirin ist seit 1995 Sänger von Tarakany! (dt. Kakerlaken), einer der populärsten Punkbands in Russland, gegründet 1991 in Moskau. Anfangs spielte Spirin nur Bass. 2008 eröffnete die Band das einzige Moskauer Konzert der wiedervereinigten Sex Pistols.

Da Borowikow als Aktivist zum Stab von Alexej Nawalny gehört, denke ich, dass man sich dieses absurde Urteil einfach für ihn ausgedacht hat. Auf den Zustand des Landes bezogen würde ich sagen, dass wir einen Totalitarismus erleben, mit seinem endlosen Kampf gegen Andersdenkende.

Sie gelten als Kritiker der Putin-Regierung. Werden Sie auch in Zukunft über Proteste schreiben und so das Risiko etwa von Konzertverboten eingehen? Oder ist es auch denkbar, dass Sie sich mehr auf die Musik und weniger auf Politik konzentrieren?

Musik und Texte entstehen immer in einem kreativen Prozess, und in welche Richtung uns die Inspiration führt, ist schwierig vorherzusagen. Die Frage suggeriert allerdings, dass gute Musik und politische Texte nicht unbedingt zusammengehören. Das ist genau der Standpunkt, den diejenigen einnehmen, die uns für unser politisches Engagement kritisieren: »Je mehr Protestlieder, desto schlechter die Musik« oder: »Ihr solltet lieber wie früher einfach nur gute Musik machen.« Ich bin da anderer Meinung. Ohnehin spielt es bei Punkrock für die Qualität der Musik kaum eine Rolle, worüber man singt.

Aber es spielt womöglich eine Rolle für die Staatsmacht.

Die russische Staatsmacht sucht in Texten immer nach Verstößen gegen irgendwelche Gesetze, zum Beispiel nach Verherrlichung von Drogen, Nazismus oder Terrorismus. So wie wir es beim Rapper Morgenshtern gesehen haben (dem u. a. vorgeworfen wird, Drogenkonsum verherrlicht zu haben, Anm. d. Red). Du kannst im Prinzip so viel, wie du willst, über liberale Werte und demokratische Grundrechte singen. Solange du damit nicht offen Oppositionspolitiker wie Alexei Nawalny unterstützt und deine Fans nicht zu Protesten aufrufst, kannst du davon ausgehen, dass im Großen und Ganzen die Behörden deiner Band kaum Aufmerksamkeit schenken. Tatsächlich gibt es in Russland einige Bands mit Protestsongs, die mit den Behörden gar keine Probleme haben, deren Konzerte auch nicht abgesagt werden. Das ist so ein seltsames Paradox.

Wurden auch Ihnen schon Auftritte verboten?

Wir hatten 2021 unser 30-jähriges Bandjubiläum und eine Herbsttour geplant, von der fünf Auftritte abgesagt wurden, nach einem Anruf »von oben«. Den Organisatoren wird mitgeteilt, dass der Auftritt einer bestimmten Band »nicht erwünscht« ist. Keiner wird dir sagen, woher genau diese Anrufe kommen, aber sie reichen, um Veranstaltern die Anmietung des Konzertsaals zu kündigen. Das ist gängige Praxis. Wir sehen auch, dass die Pandemie von der Staatsmacht benutzt wird, um Veranstaltungen zu verbieten, die ihr nicht genehm sind. Wir hatten mehrfach den Fall, dass die Gesundheitsbehörde ein Konzert von uns verboten hat, Auftritte von anderen Bands an den gleichen Orten, zur gleichen Zeit dagegen genehmigt wurden.

Das größte russische Rockfestival »Naschestwije« hat uns nicht mehr eingeladen, nachdem wir dort 2015 auf der Bühne gegen den Krieg in der Ostukraine protestiert hatten. Erst 2020 hat man uns wieder eingeladen, nachdem das Festival seine Zusammenarbeit mit dem russischen Militär endlich beendet hatte (seit 2013 stellte es dort »Wehrtechnik« aus, Anm. d. Red).

Führen diese Erfahrungen zu einer gewissen Selbstzensur?

Ich höre manchmal von meinen Bandkollegen, dass das Publikum müde sei von den politischen und sozialkritischen Texten. Wir spüren das; ich lese diese Kritik in Kommentaren online und verstehe sehr wohl, dass ein Teil unseres Publikums weniger Politik möchte. Dennoch kann ich mich nicht erinnern, dass wir irgendwann mal ein Lied nicht gemacht oder einen Text geändert hätten, weil es uns zu protestmäßig vorkam.

Wie diskutieren Sie das mit Ihren Bandkollegen?

Die richtigen Diskussionen fangen immer an, sobald es um Videoclips geht, denn visuell ist eine Botschaft auch viel eindeutiger. Wer unser Video »Moj Golos« (Meine Stimme) sieht und unsere Band kennt, für den ist da alles klar. Über die Gestaltung dieses Clips haben wir in der Band tatsächlich gestritten. Wir sind uns nicht immer einig, wie wir auf die politische Situation im Land reagieren sollen. Wir sind Leute, die sich durch ihre Musik darstellen, und in unseren Liedern kann es um alles Mögliche gehen. Wir haben uns nie als Protestgruppe positionieren wollen, Protest ist bei uns eines von vielen Themen. Wenn wir ein Album planen, geht es nicht darum, ob politische Songs bei den Leuten gerade gut ankommen oder nicht. So haben wir nie gedacht, sondern das künstlerische Schaffen ist bestimmt durch das, was mich hier und jetzt beschäftigt. Es kann sein, dass ich mich hinsetze und einen Song über soziale Ungerechtigkeit, Einschränkungen der bürgerlichen Freiheit oder Korruption schreibe - vielleicht schreibe ich aber auch über traditionelle Themen wie Sex, Drogen oder Rock ’n’ Roll.

Gehen Sie eigentlich wählen?

Nein. Seit es bei Wahlen massenhaft Fälschungen gab, zugunsten von Putin und seiner Partei Einiges Russland, gehe ich nicht mehr. In meinen Augen ist das Zeitverschwendung. Ich glaube, das erste Mal war es 2008, als ich beschlossen habe, meine Stimme nicht abzugeben.

Was halten Sie von dem System »Smart Voting«, mit dem Alexej Nawalny bei der Parlamentswahl 2021 erreichen wollte, dass Wähler in ihrem Wahlkreis ihre Stimme dem chancenreichsten Oppositionskandidaten geben?

Die Idee dahinter finde ich gut. Wenn das System nicht gut wäre, hätte es auch nicht so viel Widerstand beim Staat erregt. Und der Erfolg bei den letzten Wahlen zeigt ja, dass »Smart Voting« von den Leuten angenommen wurde. Für mich persönlich hätte es aber bedeutet, dass ich die Kommunisten hätte wählen müssen, und das gefällt mir wiederum nicht.

Sie haben sich gegen den Krieg in der Ostukraine ausgesprochen. 2019 erschienen einige Songs wie »Voennaja trevoga« (Kriegsalarm) und »Dezertir iz Armii Zla« (Deserteur aus der Armee des Bösen). Waren Sie selber beim Militär?

Nein, ich war nicht bei der Armee.

Wie erklären Sie sich, dass in sozialen Netzwerken, aber zum Teil auch bei staatlichen Medien Russlands eine gewisse Kriegsbegeisterung herrscht?

Ich kenne niemanden persönlich, der einen Krieg unterstützen würde, lese solche Äußerungen aber auch in den sozialen Medien. Mir scheinen dieser ganze Patriotismus und die Kriegsrhetorik der letzten Jahre auf jeden Fall künstlich erschaffen zu sein, durch das Fernsehen. Die Staatspropaganda pflanzt diese Ideen leider in die Köpfe der Menschen. Und es gibt immer Leute, denen diese Kriegsgedanken richtig Spaß machen - sie geben ihnen das Gefühl, zu einer starken, aggressiven Bewegung zu gehören. Ich persönlich fand es merkwürdig, wie viele Russen über den Anschluss der Krim begeistert waren, selbst Leute in meinem Bekanntenkreis.

Wie ist Ihr Standpunkt: Gehört die Krim zur Ukraine?

Nach meiner Meinung wurde die Krim gesetzeswidrig annektiert. Die Art und Weise wie die Halbinsel einverleibt wurde, verstößt gegen internationales Recht. Ich glaube den Ergebnissen des Referendums von 2014 nicht und bin auch nicht der Ansicht, dass es legitim war, ein derartiges Referendum abzuhalten. Einfach auf fremdem Territorium eine Meinungsumfrage unter den Bürgern durchzuführen und zu fragen, welchem Staat sie angehören möchten - ich glaube, das gab es noch nirgendwo anders.

Wir haben das alles übrigens selbst miterlebt, denn wir waren dort auf Tour. Noch vor dem Referendum sahen wir, wie die ukrainischen Fernsehsender abgeschaltet wurden, wie Leute in Uniform ohne Abzeichen Grenzposten einnahmen und wie die Banken auf einmal nur noch in Rubel auszahlten.

Hat man Ihnen damals empfohlen, die Krim sofort zu verlassen?

Als wir einreisten, war der Zoll noch ukrainisch. Wir gaben Konzerte in Sewastopol und Simferopol, und man merkte schon, dass die Vereinigung vorbereitet wurde. Als wir nach zwei Tagen wieder ausreisten, gab es den ukrainischen Zoll nicht mehr. Einen Ausreisestempel haben wir nicht mehr bekommen - und das war alles noch eine ganze Woche vor dem eigentlichen Referendum.

Spielen Sie oft in der Ukraine?

Ja, wir sind eigentlich jedes Jahr dort. 2021 haben wir ein Konzert in Kiew gespielt, meistens machen wir dann eine Minitournee.

Wie gefällt Ihnen das gesellschaftlich-politische Klima in der Ukraine im Moment?

Ehrlich gesagt bin ich über die Innenpolitik der Ukraine nicht wirklich im Bilde, ich weiß nicht genau wie es dort mit Korruption, Kriminalität und den Oligarchen aussieht. Die Nachrichten, die aus der Ukraine bei uns ankommen, zeichnen jedenfalls kein besonders gutes Bild. Aber wenn ich dort bin, fühle ich mich viel freier. Es lässt sich in der Ukraine leichter leben, würde ich sagen. Russland ist in den letzten zehn Jahren sehr düster geworden, viel düsterer als je zuvor. Das ist in der Ukraine anders. Von den ehemaligen Sowjetrepubliken gefällt es mir am besten in Georgien, die Leute dort sind die besten.

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!