Provinz und Apokalypse

Das Unheil kommt in einem einzigen Satz: »Herscht 07769« von László Krasznahorkai

  • Norma Schneider
  • Lesedauer: 5 Min.

Der neue Roman des großen ungarischen Schriftstellers Lásló Krasznahorkai ist ein Panorama der Gegenwart - angesiedelt und zugespitzt in der ostdeutschen Provinz. Es beginnt als fast liebevolles Portrait einer Kleinstadt und ihrer Einwohner*innen, die zwar ein Naziproblem haben, aber mehr oder weniger beschaulich vor sich hinleben - bis sich die Ereignisse überschlagen und alles mehr und mehr aus den Fugen gerät.

Die fiktive Stadt zwischen Saalfeld und Jena heißt Kana, was sehr nach dem biblischen Kana klingt, aber auch in vielen Details an Kahla in Thüringen erinnert. Der ungewöhnliche Titel des Romans - »Herscht 07769« - ist eine Kombination aus der Postleitzahl von Kana und dem Namen der Hauptfigur: Florian Herscht. Er ist ein liebenswerter, naiver und nicht besonders kluger junger Mann, der niemandem etwas Böses will. Dass um ihn herum ziemlich viel passiert, das man böse nennen könnte, bemerkt er lange nicht.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Stattdessen versteift er sich auf ein Problem der Physik, das er im Volkshochschulkurs falsch verstanden hat. Er ist überzeugt, dass die Erde bald von Antimaterie vernichtet wird, und schreibt alarmierende Briefe an die damalige Bundeskanzlerin, die schließlich Physikerin ist: »Angela Merkel, Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, Willy-Brandt-Straße 1, 10557 Berlin, das schrieb er ins Adressfeld, dann wie üblich in die obere linke Ecke des Absenders nur Herscht 07769, das und nichts weiter, damit gleichsam den vertraulichen Charakter der Angelegenheit ausdrückend«.

So beginnt der Roman und es folgt auf den nächsten 400 Seiten kein Punkt mehr. »Herscht 07769« besteht aus einem einzigen Satz. Doch das macht den Text nicht schwer zugänglich oder künstlich kompliziert. Krasznahorkai erzeugt einen so mitreißenden Sprachfluss, dass man schon nach wenigen Seiten vergessen hat, dass Texte normalerweise in Sätze und Absätze gegliedert sind. Man kann schlicht nicht mehr aufhören zu lesen, was auch der Leistung von Übersetzerin Heike Flemming zu verdanken ist, die den Roman aus dem Ungarischen übertragen hat.

Der Sog des Romans entsteht aber nicht nur durch Krasznahorkais Sprache, sondern auch aus der Faszination, die von Florian Herscht ausgeht, der sich im Laufe der Handlung von einem Unschuldsengel zum rücksichtslosen und brutalen Rächer wandelt. Am Beginn der Geschichte ist Florian abhängig von einem stadtbekannten Nazi, den alle nur den »Boss« nennen. Florian wuchs im Waisenhaus auf und der Boss hat ihn dort rausgeholt, ihn mit einer Wohnung im Plattenbau und Arbeit in seiner Reinigungsfirma versorgt. Florian hat sonst niemanden und vergöttert diesen Mann, der ihn gnadenlos ausnutzt.

Der Boss ist ein Klischee-Nazi mit Rottweiler und Reichsadlertattoo, der Florian bei ihren gemeinsamen Autofahrten immer alle Strophen der Nationalhymne singen lässt. Er ist Anführer einer lokalen Nazigruppe, deren Präsenz in der kleinen Stadt für erschreckend wenig Aufregung sorgt, man scheint es als etwas Unvermeidliches hingenommen zu haben. Die Schablonenhaftigkeit der Figur dient zur Verdeutlichung dieses strukturellen Problems. Aber Krasznahorkai geht in seiner Charakterisierung auch über das Klischee hinaus.

Denn der Boss hört nicht, wie man erwarten würde, Rechtsrock, sondern ist ein großer Fan von Johann Sebastian Bach, der in Eisenach geboren wurde, im heutigen Thüringen und Sachsen wirkte und auf den sich in Kana alle - links wie rechts - irgendwie einigen können. Zu Ehren des Komponisten hat der Boss die »Kanaer Symphoniker« gegründet, eine Hobbymusikergruppe, die regelmäßig an Bachs komplexen Stücken scheitert. Auch Florian findet Gefallen an der Barockmusik. Bach wird zum Soundtrack seiner Geschichte und mehr und mehr eine Untermalung des heraufziehenden Unheils.

Bis auf die Sache mit der Antimaterie kann sich Florian eigentlich nicht vorstellen, dass etwas Bedeutendes oder gar Schlimmes passieren wird: »in Florians Augen änderte sich das Leben nie, alles lief immer genauso, die Morgen, die Abende, die Jahreszeiten, alles, immer, genauso, er hätte es nicht verstanden, wäre er eines Tages aufgewacht und es hätte kein Hochhaus gegeben, keinen Boss, kein Kana, keine Bundesrepublik Deutschland«. Doch als Florian schließlich erkennen muss, mit wem er es wirklich zu tun hat und den Boss nicht länger verteidigen kann, ist nichts mehr wie zuvor. Denn dessen Nazigruppe verbreitet mehr als nur Stammtischparolen. Sie verüben Anschläge in der Umgebung und jagen auch die örtliche Tankstelle in die Luft, wobei die Betreiber*innen Nadír und Rosario getötet werden. Florian mochte die beiden sehr gerne, und als hätte sich ein Schalter umgelegt, wird aus Florians gemütlichem Leben ein Rachefeldzug.

In den Kanaer Alltag schleicht sich so das Unheil ein - und das nicht nur in Form von Naziterror. Eine düstere, apokalyptische Stimmung breitet sich aus, Wölfe und Adler tauchen auf und greifen die Menschen an. Krasznahorkai, der schon in seinen früheren Romanen Provinz und Apokalypse meisterhaft zusammenbrachte, versteht es, diese mystischen Elemente überzeugend zu inszenieren und mit dem realen, durch die Neonazis verbreiteten Grauen zu verbinden.

Aber warum hat ein vielfach preisgekrönter Autor aus Ungarn seinen apokalyptischen Roman ausgerechnet in Thüringen angesiedelt? Krasznahorkai ist selbst ein großer Verehrer Bachs und ist nach Ostdeutschland gereist, um sich die Orte aus dem Leben des Komponisten anzuschauen. Unterwegs ist ihm dann die Idee zur Figur Florian Herscht und seiner Geschichte gekommen, wie Krasznahorkai in einem Rundfunkinterview berichtet hat.

Doch der Roman geht über den konkreten Ort hinaus. Wie er den Alltag der Menschen beschreibt - liebevoll und gnadenlos -, ihre Eigenheiten, sozialen Nöte und kleinen persönlichen Dramen, ihre politischen Verortungen oder ihre Versuche, das Politische zu ignorieren - das ist ein Gesellschaftsbild der Gegenwart, das im Kleinen das Große beschreibt.

»Herscht 07769« ist ein beeindruckendes Buch, virtuos und mitreißend erzählt, das nicht weniger behandelt als die Frage, wie es möglich ist, in einer Gesellschaft zu leben, in der rechtsradikale Positionen selbstverständlich zum Diskurs gehören und Neonazis Alltag geworden sind - und mal Dorffeste ausrichten, mal Menschen töten.

László Krasznahorkai: Herscht 07769 Aus dem Ungarischen von. Heike Flemming, S. Fischer, 416 S., geb. 26 €.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!