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Seit 20 Jahren in der Opposition
Die 77-jährige Jelena Ossipowa demonstriert immer wieder gegen das System Putins und wurde erneut verhaftet
Alter schützt vor Verhaftung nicht. Diese Erfahrung machte Jelena Ossipowa in St. Petersburg. Die 77-Jährige war nicht die einzige, die bei einer Demonstration gegen den Krieg Wladimir Putins festgenommen wurde, aber sicher die Bekannteste - denn seit 20 Jahren steht die Künstlerin bei Protesten in der ersten Reihe. Damals - im Oktober 2002 - war es die Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater, die die Kunstlehrerin und Malerin politisierte. »Ich arbeite oft nachts, und um 6 Uhr morgens sah ich die Nachrichten über die Geiselnahme im Fernsehen. Ich war so schockiert, dass sie aus verschiedenen Blickwinkeln gefilmt haben und uns alles gezeigt wurde«, schilderte sie auf Priter.tv ihr Erweckungserlebnis. Auf ihrem damaligen Plakat stand: »Herr Präsident, ändern Sie dringend den Weg.« Der Präsident war Putin, änderte seinen Weg nicht und Jelena Ossipowa wurde für ihren Protest angefeindet. Einschüchtern ließ sie sich freilich nicht.
Die Pazifistin lebt in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung in St. Petersburg - derselben, in der ihre Eltern die Blockade der Stadt durch die deutsche Wehrmacht vom September 1941 bis zum Januar 1944 überlebten. Mehr als eine Million Leningrader starben während der Einkesselung, die meisten an Hunger. In der Wohnung entdeckte Jelena als Kind bei Mutter und Großmutter ihre Liebe zur Kunst, studierte später Kunst und arbeitete als Kunstlehrerin.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Immer wieder übte sie Kritik an Putins Regierung, protestierte gegen Drogen, Ungerechtigkeit, politische Verfolgung und Rassismus. Eine wachsende Schar Mitstreiter gesellte sich hinzu. So auch am Mittwoch, als sie wie 2014 der Konflikt mit der Ukraine auf die Straße trieb. »Du spürst, dass du mit deinen Gedanken nicht allein bist, dass es andere Menschen gibt, die genauso denken. Vielleicht sind es nicht so viele, aber es gibt sie«, sagte sie 2015 in einem Interview mit »The Russian Reader«. »Ich wurde schon öfters festgenommen«, sagte sie, »manchmal ganz schön grob.«
Wie es der Demonstrantin nach ihrer jüngsten Festnahme geht, ist nicht bekannt. Eins ist aber klar: 20 Jahre nach ihrem ersten Solo-Protest gilt sie in ihrer Heimatstadt als Heldin. Sie ist die »Oppositions-Oma«, wie Gleichgesinnte sie nennen. Martin Ling
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