Werbung

Marktgesellschaft und Übermensch

Friedrich Nietzsche hat die Aristokratisierung des Kapitalismus propagiert, Ayn Rand hat sie im 20. Jahrhundert popularisiert. Eine Kritik zum 40. Todestag der Bestseller-Autorin, die als Vordenkerin des ungehemmten Neoliberalismus gilt

  • Ishay Landa
  • Lesedauer: 8 Min.
Inkarnation des natürlichen Adels: Gary Cooper als Howard Roark zu Füßen von Dominique (Patricia Neal) in der Verfilmung von »Der ewige Quell« (1949)
Inkarnation des natürlichen Adels: Gary Cooper als Howard Roark zu Füßen von Dominique (Patricia Neal) in der Verfilmung von »Der ewige Quell« (1949)

Das Werk des Philosophen Friedrich Nietzsche (1844-1900) wird bis heute gefeiert als emanzipatorische »Bloßstellung« von Machtpolitik, zentral für die Gesellschaftsanalysen der Postmoderne, verkörpert im Poststrukturalismus und dem Werk von Michel Foucault. In Wirklichkeit ist Nietzsches Theoriegebäude ein Versuch, Macht und Ausbeutung als unwiderrufliche Grundlage jeder (gesunden) Politik festzuschreiben. Auf diese Weise sollte die Bourgeoisie von ihrem Verrat an früheren egalitären Idealen freigesprochen werden. Foucault feierte Nietzsche bekanntlich als »Meister des Argwohns« - während dieser im Gegenteil aber nur den »Argwohn« derjenigen neutralisieren wollte, die die zynische Machtpolitik der Bourgeoisie anprangerten. Nietzsches geradezu geniale Argumentation in diesem Zusammenhang lautete: Ja, es gehe um Machtpolitik, aber daran sei ja gar nichts auszusetzen. Die wirklichen Übeltäter seien die Sozialradikalen, die jeglichen Machtgebrauch verbieten wollten.

Passenderweise bestrafte Nietzsche die bürgerlichen Konservativen seiner Zeit gerade dafür, dass sie sich vor dem Eingeständnis drücken, dass bloßes Machtstreben das Motiv für ihr Handeln ist. Eben diese Unehrlichkeit spiele, so schreibt Nietzsche in »Der Wille zur Macht«, den Radikalen in die Hände. Weil die Konservativen an den Prinzipien der Moral festhielten, müssten sie die Bedingungen akzeptieren, die von den werktätigen Massen diktiert würden. Dieser angenommene Zustand sollte in den Augen des deutschen Philosophen durch eine kühne Offensive behoben werden, die die Spielregeln komplett ändert, indem sie die selbstzerstörerischen Strategien der parlamentarischen Pseudoherrschaft verwirft und selbstbewusst eine »alt-neue«, aristokratische Moral verkündet: »››Ich und meine Art‹ will herrschen und übrigbleiben: wer entartet, wird ausgestoßen oder vernichtet‹ - ist Grundgefühl jeder alten Gesetzgebung«. Die Bourgeoisie wurde immer aggressiver in ihrer tatsächlichen politischen Machtausübung und immer gewalttätiger im Kampf gegen die »sozialistische Bedrohung«. Angesichts dessen musste sie sich der ideologischen Reste des Humanismus entledigen - und der Nietzscheanismus kann als philosophische Rechtfertigung dieses Prozesses angesehen werden.

Kritik und Ideologie

Nun steht diese Lesart Nietzsches als philosophischer Beschützer bürgerlicher Interessen scheinbar im Widerspruch zu seiner Kritik an der Bourgeoisie, etwa ihrer Engstirnigkeit, Gier, Kulturlosigkeit, Gemütlichkeit und Selbstgefälligkeit. Die »industrielle Kultur« sei, so schreibt Nietzsche in »Die Fröhliche Wissenschaft«, die »gemeinste Daseinsform, die es jemals gegeben hat«, in ihr »wirkt einfach das Gesetz der Not: man will leben und muss sich verkaufen, aber man verachtet den, der diese Not ausnützt und sich den Arbeiter kauft«. Wie kann so ein prokapitalistischer Ideologe sprechen? Das wird verständlich dadurch, dass eine kulturelle Kapitalismuskritik nicht mit einer politischen gleichgesetzt werden kann: Was Nietzsche an der industriellen Kultur falsch fand, hielt er auf politischer Ebene für kontraproduktiv. Seine wirkliche Anstrengung zielte nicht darauf ab, die kapitalistische Arbeitsteilung zu stören, sondern sie zu optimieren. So störte es Nietzsche beispielsweise nicht, Unternehmer als einen »listigen, aussaugenden, auf alle Not spekulierenden Hund von Menschen« zu bezeichnen, sondern dass der Arbeiter ihn als solchen erkennen kann: »Den Fabrikanten und Großunternehmern des Handels fehlten bisher wahrscheinlich allzu sehr alle jene Formen und Abzeichen der höheren Rasse, welche erst die Personen interessant werden lassen.«

Die Kulturkritik Nietzsches ist im Wesentlichen das Werk eines Erziehers, der dem vulgären Unternehmer die Kunst beibringt, als »interessante Person« zu erscheinen. Der Industrielle soll quasi mit feinen Handschuhen ausgestattet werden, sein »Name, Gestalt, Sitte und Ruf« soll sich verändern - mit dem Zweck, dass der befehlende Charakter der Beziehung zum Arbeiter intakt bleibt. Übrigens entlarvt Nietzsche in »Die fröhliche Wissenschaft« unwillkürlich den Herrschaftsanspruch des Adels, indem er schreibt, dass dieser aus einer Reihe von symbolischen Gesten besteht, die die Tatsache verbergen, dass »nur Zufall und Glück« eine Person über eine andere erhoben haben. Das Konzept eines »Pathos der sozialen Distanz«, das so zentral für Nietzsches Denken ist, wird als Schauspiel entlarvt - als große dramatische Leistung, die, wenn sie erfolgreich ist, eine Illusion grundsätzlicher Verschiedenheit erzeugt und damit bei den Beobachtenden nicht allein Bewunderung und Anerkennung erzeugt, sondern auch die Bereitschaft zur Unterwerfung.

Ayn Rand als Nachfolgerin Nietzsches

Ein Paradestück des populären Nietzscheanismus ist der Roman »Der ewige Quell« der russisch-amerikanischen Schriftstellerin Ayn Rand (1905-1982). Sie gestaltet darin das oben skizzierte nietzscheanische Bild eines »edlen« Kapitalismus, dessen Herrschende in der Lage sind, die Arbeiterklasse durch Charisma zu unterwerfen, das Proletariat gleichsam in einen unwiderstehlichen Bann zu ziehen. In Rands Erzählung verkörpert der übermenschliche Architekt Howard Roark diese einzigartige Gabe, er ist das »höchste« Individuum, das die wahre Essenz des Kapitalismus repräsentiert. Roark ist, in Rands Begriffen, eine wirkliche »Einheit«, vollständig in sich geschlossen; er widmet sein Leben der Feier seiner Individualität und ist unempfindlich gegenüber äußeren Anforderungen und Erwartungen. Im Gegensatz zu seinen Architektenkollegen - »Nachmacher« ohne autonome Substanz und daher gelenkt vom Diktat der Gesellschaft, vom gemeinen Mob - ist Roark in »Der ewige Quell« gezeichnet als »die edle Seele par excellence. Der Mann, wie er sein sollte. Der Selbstgenügsame, Selbstbewusste, Zweckfreie, die Vernunft für sich selbst, die Lebensfreude in Person. Vor allem - der Mann, der für sich selbst lebt (…) und der vollständig triumphiert.«

Betrachten wir nun den Einfluss, den diese aristokratische Unternehmerpersönlichkeit auf die Arbeiterklasse haben soll, im Roman vertreten durch einen Elektriker namens Mike. Mike ist dargestellt als grobschlächtiges Individuum mit begrenzten Fähigkeiten, ist aber zugleich ein ehrlicher, robuster Mensch - wie es sich für einen idealen Diener gehört. Der Prozess der zustimmenden Unterwerfung des Proletariats, wie Ayn Rand ihn beschreibt, verläuft in drei Phasen. Die Beziehung der beiden Männer beginnt, als sie sich zum ersten Mal auf einer Baustelle begegnen, mit der Phase des Argwohns, der kalten Skepsis auf Seiten des Arbeiters Mike. Er hält Roark in dieser Einführungsphase für einen typischen »Nachmacher« der Mittelklasse, einen arroganten, unfähigen Menschen, für den er unmöglich Respekt empfinden kann. Dabei spricht Mike nicht nur für sich selbst, sondern drückt stillschweigend die verächtliche Haltung der Arbeiterklasse gegenüber der inkompetenten Elite aus: Er spricht im Plural, als er sagt, »wir mögen hier keine studierten Klugscheißer«.

Dann allerdings kommt ein entscheidender Moment, in dem Roark energisch nach den Werkzeugen des Elektrikers greift und dem erstaunten Handwerker auf elegante Weise zeigt, was in ihm steckt. Dies ist die zweite Phase in ihrer Beziehung, die Anerkennung. Rand schreibt: »Es gab keine Anstrengung, keine Anstrengung in der leichten Haltung von Roarks Körper, nur in seinem Arm. Und es schien, als käme die blaue Spannung, die sich langsam durch Metall frisst, nicht von der Flamme, sondern von der Hand, die sie hielt. (…) Der Elektriker starrte ehrfürchtig auf das saubere Loch, das durch den Balken geschnitten wurde.« Die blaue Flamme, die aus Roarks gewissermaßen blaublütiger Hand strahlt, diese Verdeutlichung seines inneren Wertes, weckt Verehrung in dem rauen, skeptischen Arbeiter. Mike räumt denn auch seine Niederlage ein, ergibt sich vor dieser Zurschaustellung von natürlichem Adel. Auf seine Anerkennung von Roarks großartigen Fähigkeiten folgt eine Phase herzlicher Freundschaft, in der die beiden, Architekt und Elektriker, harmonisch und scheinbar gleichberechtigt koexistieren.

Aber nun folgt der letzte Entwicklungsschritt, durch den sich der Kreis schließt. Als Roark seinen ersten Auftrag als Architekt an Land zieht, erscheint Mike spontan auf der Baustelle des Projekts, bereit, seinen Dienst zu leisten. Dies ist die dritte Phase in der Etablierung der »Sozialpartnerschaft« zwischen Bourgeoisie und Proletariat: die Unterwerfung. Wie Nietzsche es vorhergesagt hat, behauptet sich der Unternehmeraristokrat, und der Arbeiter nimmt seinen unausweichlichen, niedrigen Platz in der hierarchischen Ordnung ein. Misstrauen, Anerkennung, Unterwerfung: Das Veni, vidi, vici des noblen Kapitalisten. Der gefährliche Arbeiter hätte sich leicht in einen räuberischen Sozialisten verwandeln können, wird aber - unter der Führung eines wahren Adligen - zu einem ergebenen Haustier gezähmt.

Hierarchische Unterwerfung

Die Werke von Nietzsche und seiner Popularisiererin Rand spiegeln die wirklichen Klassenwidersprüche der kapitalistischen Gesellschaft wider und »lösen« diese symbolisch. Beide sind zutiefst konservativ, müssen aber zugeben, dass sich die Klassenhierarchie im Kapitalismus willkürlich und gewaltvoll ergibt - und dass die Kapitalisten im Allgemeinen selbstsüchtige, mittelmäßige, ausbeuterische, ehrgeizige und grausame Individuen sind, die sich rein zufällig in Positionen des Reichtums, der Privilegien und des Kommandos wiederfinden. Doch weder Nietzsche noch Rand ziehen demokratische, geschweige denn sozialistische Maßnahmen in Betracht, um dieser schmutzigen Realität zu begegnen. Jede Änderung der tatsächlichen Machtverhältnisse lehnen sie ab, die strenge Hierarchie in den bürgerlichen Arbeitsbeziehungen stellen sie als unvermeidlich dar. Sie sei lediglich Ausdruck »natürlicher« Unterschiede zwischen den Arbeiter*innen und ihren Chefs. Als Lösung des Klassenwiderspruchs präsentieren sie eine »Veredelungsfantasie«, die Unzufriedenheit der Arbeiter soll durch kapitalistische aristokratische Helden eingedämmt werden.

In der heutigen Welt erleben wir dieses Spektakel in der medialen Feier von Unternehmern wie Elon Musk, Donald Trump, Mark Zuckerberg oder Jeff Bezos, um nur die bemerkenswertesten Beispiele zu nennen. Für ihre angeblich einzigartigen Qualitäten lassen diese Kapitalisten sich auf unterschiedliche Weise feiern: von riesigen Türmen, die ihre Namen tragen bis hin zu Reisen in den Weltraum. Es kann kaum Zweifel daran bestehen, dass sie gerne verehrt werden würden als ein echter Howard Roarks, als wahre Übermenschen des Marktes. Aber werden die Mikes unserer Welt ewig von dieser sorgfältig orchestrierten Zelebrierung monströsen Reichtums gefesselt sein? Oder beißen die proletarischen Untertanen irgendwann plötzlich in die Hände, die sie an der Leine halten? Wir dürfen gespannt sein …

Redaktionell übersetzter, leicht überbearbeiteter und vom Autor aktualisierter Auszug aus dem Buch »The Overman in the Marketplace: Nietzschean Heroism in Popular Culture« von Ishay Landa, erschienen im Lexington-Verlag.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -