Nazi-Opfer als Zeugen von Putins Überfall

Angesichts des Krieges bauen NS-Gedenkstätten in Berlin und Brandenburg ein Hilfsnetzwerk für ehemalige Zwangsarbeiter und Kollegen in der Ukraine auf

  • Claudia Krieg
  • Lesedauer: 6 Min.

»Man merkt, dass das, was sonst in der Vergangenheit stattgefunden hat, nun in die Gegenwart gerückt ist.« Christine Glauning vom Berliner Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Niederschöneweide im Bezirk Treptow-Köpenick versucht zu beschreiben, welche mögliche Perspektive sie gerade als Historikerin, die zum Zweiten Weltkrieg beziehungsweise dem Nationalsozialismus und die in seinem Namen begangenen Verbrechen forscht, auf die Situation in der Ukraine einnehmen könnte. »Wir wissen nicht, was dieser Krieg langfristig für Folgen in Europa haben wird«, sagt die Gedenkstättenleiterin ernst zu »nd«.

»Natürlich beschäftigt uns vor allem die Frage: Wie geht es den ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern?«, erklärt Glauning. Über drei Millionen mehrheitlich ukrainische, sogenannte Ost-Arbeiter hatten die Nationalsozialisten verschleppt. Die Ukraine war komplett von den deutschen Truppen besetzt. Sie vernichteten dort Menschen in Massen, plünderten und zerstörten Dörfer und Ortschaften, hinterließen verbrannte Erde. Zu den Menschen, die ehemals als Zwangsarbeiter*innen in Deutschland gefangen gehalten und ausgebeutet wurden, gehören auch Nadeshda Slessarewa und Victor Sosow.

»Nadeshda Slessarewa wollte Kiew zunächst nicht verlassen, aber ist jetzt doch mit ihrer Familie nach Polen geflüchtet. Victor Sosow wollte anfangs ebenfalls nicht aus der Stadt fahren, und mittlerweile ist es nun zu gefährlich, fast unmöglich, von dort zu fliehen«, berichtet die Gedenkstättenleiterin. »Ich bin sehr in Sorge um die Menschen, die zum zweiten Mal in ihrem Leben einen schrecklichen Krieg erleben müssen.« Etwa 42 000 Überlebende von NS-Lagern und -Verfolgungsmaßnahmen leben noch in der Ukraine.

Horst Seferens, Sprecher der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, berichtet, wie sich die Gedenkstätte Sachsenhausen seit den ersten Tagen des russischen Angriffs auf die Ukraine um Kontakt mit dem 95-jährigen Sachsenhausen-Überlebenden Volodymyr Korobov und seiner Familie bemüht. Auch sie harre in Kiew aus und suche zeitweise im Keller Schutz. Es fehle an Lebensmitteln und Medikamenten. Korobov wurde als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt und im Oktober 1943 mit der Häftlingsnummer 72276 in das KZ Sachsenhausen eingewiesen.

Auch viele Kolleg*innen aus befreundeten Museums- und Bildungseinrichtungen weiß Glauning unter den Menschen, die derzeit in Städten und Orten dem Kriegsterror ausgesetzt sind. So wie den Kollegen in Kiew, der berichtet, dass die Gedenkstätte von Babyn Jar von einer russischen Rakete getroffen wurde. Derselbe Kollege habe mitgeteilt, dass er nun in Kiew Barrikaden baue, während andere Mitarbeiter des Nationalen Museums der Geschichte des Zweiten Weltkriegs der Ukraine an der Front kämpften, erzählt Glauning. Er war noch vor wenigen Wochen im Rahmen einer deutsch-französischen Projektwoche im NS-Dokumentationszentrum Niederschöneweide und hatte dort über seine Arbeit als Leiter der Bildungsabteilung im Nationalen Museum gesprochen.

Oft sind die Menschen, zu denen man in den zahlreichen Erinnerungsorten der Region wie Ravensbrück, Sachsenhausen oder dem Museum Karlshorst versucht, trotz der Ausnahmesituation Kontakt zu halten, beides: sowohl Kolleg*in als auch biografisch mit dem Nationalsozialismus verbunden. So wie die ukrainische Kollegin, die Abteilungsleiterin Geschichte an der Nationalen Pädagogischen Universität in Kharkiv ist. Sie ist auch Tochter eines ehemaligen Zwangsarbeiters, dessen Biografie in der Dauerausstellung des Dokumentationszentrums - »Alltag Zwangsarbeit 1938 bis 1945« - gezeigt wird.

»Wir sind seit den 2010er Jahren in Kontakt, zuletzt nahm sie anlässlich des 15-jährigen Jubiläums des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit an einem Gespräch mit Kindern ehemaliger Zwangsarbeiter*innen teil«, erinnert sich Glauning,

Die Stadt Kharkiv gehörte bereits von Beginn des Krieges an zu den besonders von russischen Angriffen betroffenen Städten.

Auch die Berliner Historikerin spricht über zerstörte Orte: Die, die von den verbrecherischen deutschen Besatzern im Zweiten Weltkrieg dem Erdboden gleichgemacht wurden und nun ein weiteres Mal zerstört würden. »Russische Panzer fahren über Massengräber von NS-Opfern«, sagt Glauning, dies sei eine erschütternde Vorstellung.

Die Situation beschäftige sie insofern auf einer professionellen, aber auch auf einer persönlichen Ebene. Schnell hätten sie und andere begonnen, nach Möglichkeiten zur Unterstützung bei der Ausreise von ukrainischen Kolleg*innen zu suchen. »Ich habe Hochschulen im Land Berlin kontaktiert mit der Frage, welche Stipendien oder Fellowships möglich sind. Sehr viele haben sich zurückgemeldet und ihre Bereitschaft signalisiert, zu helfen.« Nun werde geprüft, welche Programme und Formate passen.

Man arbeite aber auch an Hilfsstrukturen für die, die bleiben müssten oder auch wollten, betont die Historikerin. Sie wisse um ukrainische Kolleginnen, die sich mit ihren Kindern in der Nähe der ukrainisch-polnischen Grenze aufhielten, während die Männer aufgefordert seien, im Rahmen der Generalmobilmachung gegen die russische Armee zu kämpfen - das Land zu verlassen, ist allen Männern zwischen 18 und 60 verboten.

Man wolle versuchen, im Rahmen eines neu gegründeten Hilfsnetzwerks konkrete finanzielle Unterstützung zu bieten, erklärt Glauning. Dabei gehe es nicht nur um Geld, »sondern auch um Solidarität, um Sachspenden, um Vermittlung«. 30 Gedenkstätten, Museen sowie verschiedene Initiativen und Vereine haben sich dafür bundesweit auf die Initiative des Berliner Vereins Kontakte-Kontakty zusammengeschlossen.

Mit den Spenden, die das Hilfsnetzwerk einwerben will, so heißt es in einer am Donnerstag veröffentlichten Mitteilung, soll »eine koordinierte und unbürokratische Unterstützung von ehemaligen NS-Verfolgten, ihrer Angehörigen und Partner*innen des Netzwerks« realisiert werden. Gerade in Gedenkstätten, für deren Finanzierung oft langwierige Antragsprozeduren bei Fördergebern nötig sind, weiß man, worüber man spricht. Dass die Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft eine Teilzeitstelle zur Koordinierung der Initiative finanziert, erleichtert die Arbeit.

Auch historische und pädagogische Einrichtungen in Russland und Belarus benötigten Hilfe - neben der Unterstützung des Personals müssen Arbeitsergebnisse, Archivalien und Daten gesichert werden, heißt es.

Überhaupt sei es wichtig, im Austausch mit Kolleg*innen zu bleiben, erklärt Johannes Spohr. Der Historiker unterstützt die »Ukrainian Hours«, die die KZ-Gedenkstätte Neuengamme bei Hamburg ins Leben gerufen hat: In der Ukraine gebliebene Kolleg*innen halten bei diesen Ukrainischen Stunden Online-Fachvorträge zu ihren Forschungen. Die jeweils einstündigen »Wissenschaftsbrücken« gelten für die Forschenden in Deutschland als interne Fortbildung. Viele ukrainische Kolleg*innen melden zurück, dass ihnen der Austausch hilft, sich wieder als Wissenschaftler*innen wahrzunehmen und nicht nur als Menschen im Krieg oder Flüchtlinge.

Die Lücken im historisch-politischen Wissen, auch zum Verhältnis Russland-Ukraine, realisieren derzeit einige. Sich für das Engagement der Gedenkstätten und Bildungsinitiativen zu interessieren und deren Arbeit zu unterstützen, kann also nicht nur zahlreichen Opfern des Krieges helfen, sondern auch manch einem selbst.

Spendenkonto des Hilfsnetzwerks für NS-Verfolgte in der Ukraine bei der Berliner Volksbank: Empfänger: Kontakte-Kontakty, IBAN: DE59 1009 0000 2888 9620 02, BIC: BEVODEBB

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