- Politik
- Der Appell
Zivile Bündnispolitik
Wie der Appell für Demokratie und gegen Hochrüstung entstanden ist und warum sich die Initiative auf Kernforderungen konzentriert
Für Ingar Solty waren es widersprüchliche Gefühle, die sich an diesem Sonntag vor einem Monat Bahn brachen. Der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine dauerte erst wenige Tage an. Auf die erste Schockstarre folgten europaweite Friedensproteste mit mehreren Millionen Teilnehmenden. Allein in Berlin versammelten sich Hunderttausende Menschen - darunter auch Solty. »Es war der größte Protest seit dem Irakkrieg« 2003, sagt der Sozialwissenschaftler noch immer mit begeisterter Stimme. Doch ein Blick auf sein Smartphone trübte Soltys Stimmung. Während zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor Hunderttausende gegen Leid, Zerstörung und Tod demonstrierten, kündigte im nur wenige hundert Meter entfernten Bundestag Kanzler Olaf Scholz (SPD) eine massive Aufrüstung an.
Der russische Angriffskrieg markiere eine politische »Zeitenwende«, so Scholz. Hinter der Chiffre verbergen sich 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr und eine generelle Aufstockung des Wehretats. Künftig will der Kanzler mehr als zwei Prozent des deutschen Bruttoinlandsproduktes für das Militär ausgeben und damit das Nato-Ziel übertreffen. »Das kann man als nichts anderes als einen Schock begreifen. Auf der einen Seite findet die größte Friedensdemonstration seit 2003 statt und auf der anderen Seite die größte Hochrüstung seit Ende des Zweiten Weltkrieges«, sagt Solty »nd.DieWoche«. Er forscht bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Bereich Frieden sowie Außen- und Sicherheitspolitik.
Begeistert von den großen Protesten und gleichzeitig die geplante Aufrüstung ablehnend, findet sich eine fünfköpfige Gruppe zusammen, die etwas unternehmen will. Es ist der Anfang von »Der Appell«. Neben Solty gehören zum Kernteam die Linke-Politikerin Julia Schramm, der Soziologe Klaus Dörre, der SPD-Abgeordnete Jan Dieren und Andrea Ypsilanti, Sozialdemokratin und Sprecherin vom Institut Solidarische Moderne.
Dass von Beginn an zwei Initiator*innen mit SPD-Parteibuch dabei sind, sagt etwas über die Stoßrichtung der Initiative aus. Von Anfang an wollte man den Eindruck vermeiden, der Appell gehe »von den üblichen Verdächtigen« aus, also vorrangig von Personen aus dem Umfeld der Linkspartei. »Das Ganze hätte nicht mehr als eine Signalwirkung gehabt, da die Stimmen der Linksfraktion für die geplante Grundgesetzänderung nicht ausschlaggebend sind. Die Linke ist zu schwach, um das Zwei-Prozent-Ziel zu kippen«, so Solty. Er ist überzeugt: »Wenn du ernsthaft etwas an dieser Politik der Aufrüstung ändern willst, darauf hinwirken willst, dass diese zurückgenommen wird, dann brauchst du ein breites gesellschaftliches und vor allem überparteiliches Bündnis mit Rückhalt in den Bundestagsfraktionen der Regierung selbst.«
Mit dieser Einschätzung im Hinterkopf entsteht eine erste Rohfassung des Appells. Parallel zu Gesprächen mit möglichen Erstunterzeichner*innen wird der Aufruf mehrfach überarbeitet, immer mit dem Fokus darauf, eine breite Unterstützung zu finden. Am Ende konzentriert sich der Appell unter dem Titel »Demokratie und Sozialstaat bewahren - Keine Hochrüstung ins Grundgesetz!« auf zwei Kernpunkte: die Ablehnung der Hochrüstung und die fehlende gesellschaftliche Debatte.
Einer, der den Appell unterzeichnet hat, ist der Rechtswissenschaftler Andreas Fisahn. Er findet es in Ordnung, dass sich der Aufruf beispielsweise nicht zu Waffenlieferungen an die Ukraine positioniert. »Ein Appell hat nur eine Chance auf breite Unterstützung, wenn der gemeinsame Nenner betont wird und nicht die möglichen Differenzen«, sagt Fisahn »nd.DieWoche«. Der Appell sei »wichtig als differenzierte Stellungnahme in einer Stimmung, die sich beinahe als hysterisch bezeichnen lässt.« Er hofft, dass der Appell die Bereitschaft zum Diskurs fördert.
Der Professor an der Universität Bielefeld verweist etwa darauf, dass es überaus schwierig wird, die Aufrüstung wieder rückgängig zu machen, wenn das Sondervermögen Bundeswehr wie geplant in die Verfassung aufgenommen wird. Denn für eine Grundgesetzänderung ist eine Zweidrittelmehrheit nötig. Mit dem Regierungsplan würden in einer Krise Sonderregelungen in der Verfassung verankert, die auf absehbare Zeit gelten. »Das ist aber nicht der Sinn einer Verfassung. Sie soll vielmehr generelle Normen aufstellen, von denen notfalls abgewichen werden kann, etwa, wenn der Notstand ausgerufen wird.« Zudem dürfte das geplante Sondervermögen die parlamentarische Kontrolle erschweren, weil die Mittel nicht zum regulären Haushalt gehören, der vom Parlament kontrolliert wird.
Nicht einmal in ihren Parteien hätten die Verantwortlichen im Vorfeld über ihre Pläne diskutiert, kritisiert Solty. »Die Entscheidung zur Aufrüstung wurde im Hinterzimmer getroffen, über das volle Ausmaß waren im Vorfeld noch nicht einmal die Fraktionsvorsitzenden der Ampel-Parteien informiert«, so der Berliner Sozialwissenschaftler.
Mit dem Appell wollen die Initiator*innen nun »alle Kräfte sammeln - auch aus den Regierungsparteien«. Ganz leicht ist das nicht. Zu Anfang spricht Solty etwa seine Freunde innerhalb der Sozialdemokratie an, zu denen bereits ein Vertrauensverhältnis besteht. So kam der SPD-Politiker Dieren mit ins Team der Initiator*innen. »Wir haben aus den Reihen der Regierungsparteien auch Kontakt zu Personen, die den Appell selbst nicht unterzeichnet haben, aber die Kampagne in anderer Form unterstützen oder ihr Wohlwollen geäußert haben.«
Die Sprecher*innen der Jugendorganisation der Regierungspartei Die Grünen, Sarah-Lee Heinrich und Timon Dzienus, unterstützen den Aufruf. »Ich habe den Appell unterzeichnet, weil wir eine breite gesellschaftliche Debatte über Sicherheit brauchen. Wenn dabei über die Bundeswehr gesprochen wird, muss es eine am tatsächlichen Finanzbedarf orientierte Diskussion sein«, sagt Dzienus gegenüber »nd.dieWoche«.
Er bezeichnet das geplante Sondervermögen als »Hauruck-Aktion«, die der aktuellen Situation nicht gerecht werde. »Den Menschen in der Ukraine hilft das Geld jedenfalls nicht«, so Dzienus. Für ihn ist der Appell deshalb ein erster Erfolg, weil über Sinn und Nutzen nun diskutiert werde. »Von den Milliarden profitieren vor allem Rheinmetall, Heckler und Koch und andere Rüstungskonzerne. Sicherheit ist jedenfalls viel mehr als Militär.« Der Co-Sprecher der Grünen Jugend fordert, dass »dass die zivile Krisenprävention, humanitäre Hilfe und Diplomatie weiter gestärkt« werden müsse und nicht nur die Bundeswehr, deren Budget in den letzten Jahren »schon immens gestiegen« sei. Dzienus Eindruck ist, dass diese Forderungen und die Kritik an den Milliarden für Aufrüstung von vielen Grünen geteilt werde.
Von Anfang an war es Ziel des Appells, auch jenseits der Politik Erstunterzeichner*innen aus Kultur und anderen Teilen der Gesellschaft zu gewinnen. Tatsächlich unterstützen einige Prominente den Appell, etwa die Schauspielerinnen Katja Riemann und Corinna Harfouch, der Musiker Bela B. sowie die Theologin Margot Käßmann. »Jeder hat seine Netzwerke eingebracht, ich etwa die in die Sozialwissenschaften sowie die Kunst und Kulturszene. Da gab es wiederum Leute, die ihrerseits weitere Kontakte hatten.« Solty vergleicht die Zusammenarbeit mit vielen kleinen Zahnrädern, die ineinander greifen.
»Man überlegt, wer in welche Kreise Kontakte hat. Beispiel Kirchen: Da habe ich selbst sehr wenig Bezüge gehabt, aber gleichzeitig gab es Personen, die religionspolitisch organisiert sind und in der Vergangenheit friedenspolitische Veranstaltungen - etwa auf Kirchentagen - organisiert haben.« Besonders stolz ist Solty auf den Zuspruch aus Betrieben. »Wir haben mehr als 160 Betriebs- und Personalräte sowie Gewerkschaftssekretäre gewonnen. Das zeigt auch, dass es an der Basis der Sozialdemokratie große Unzufriedenheit gibt.«
Aber was kann so ein Aufruf bewirken? Der Appell könne zumindest dazu beitragen, dass die Regierung die Aufrüstung nicht in dem geplanten Maße umsetze, meint der Arbeitsrechtsprofessor Wolfgang Däubler, der auch unterzeichnet hat. Denn »die Regierungsparteien können es nicht völlig ignorieren, wenn viele an der Parteibasis sagen: Wir wollen nicht dieses Übermaß an Rüstung. Wenn viele Funktionäre und Mitglieder von SPD und Grünen einen solchen Appell unterzeichnen, dann können die Parteien nicht einfach darüber hinwegsehen«, sagte Däubler »nd.DieWoche«. Gerade die SPD müsse empfindlich reagieren, wenn die Leute sagen: Das wollen wir nicht. »Ihre Basis ist nämlich sowieso schon viel schwächer als früher.«
Verdi lehnt Aufrüstung ab
Etliche Gewerkschafter haben den Appell unterzeichnet, als Organisation tauchen die Gewerkschaften bisher nicht als Unterstützerinnen auf. Allerdings hat sich Verdi am Freitag klar gegen die Aufrüstung positioniert: »Die Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf einen dauerhaften Anteil von zwei Prozent am Bruttoinlandsprodukt, wie es das Nato-Ziel vorsieht, lehnen wir ab«, heißt es in einer Resolution des Gewerkschaftsrats, dem höchsten Organ zwischen den alle vier Jahre tagenden Bundeskongressen. »Das Zwei-Prozent-Ziel ist eine ideologisch getriebene Festlegung. Sie würde dazu führen, dass mehr Wachstum in Deutschland automatisch zu mehr Militär führt. Das ist sinnentleert und freut lediglich die Waffenindustrie«, befindet Verdi-Chef Frank Werneke. Auch das Sondervermögen für die Bundeswehr lehnt die Gewerkschaft ab.
Die IG Metall verwies hingegen auf Anfrage auf einen DGB-Beschluss von Anfang März, der nur leise Kritik übt. So heißt es darin: »Die Bundesregierung hat zu Recht verteidigungspolitisch schnell auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine reagiert. Die dauerhafte Aufstockung des Rüstungshaushalts zur Erfüllung des Zwei-Prozent-Ziels der Nato wird vom DGB und seinen Mitgliedsgewerkschaften weiterhin kritisch beurteilt.«
Viele andere haben sich festgelegt: Bis Freitagnachmittag haben über 29.000 Menschen den Appell gegen Aufrüstung unterstützt.
Der Appell ist veröffentlicht unter : derappell.de
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.