Die Zukunftsvisionen der Vergangenheit

Der Bildband »Bauwerke, die nie errichtet wurden« zeigt gleichermaßen utopische wie größenwahnsinnige Entwürfe

  • Norma Schneider
  • Lesedauer: 4 Min.

Ganz Manhattan ist von einer Kuppel bedeckt, in der immer das ideale Klima herrscht und niemand mehr zu heizen oder zu lüften braucht. Im Norden Londons schwebt ein Flughafen platzsparend über der Stadt. In Bangkok bietet ein 1000 Meter hohes Gebäude Platz für 120 000 Menschen und einige Seilbahnen. Und in Paris wird das historische Zentrum abgerissen und durch 18 Wolkenkratzer ersetzt, um die Zukunft vom Ballast der Vergangenheit zu befreien.

All das sind Visionen von Architekt*innen, die entworfen, aber schließlich wieder verworfen wurden. Der britische Autor Christopher Beanland hat im Bildband »Bauwerke, die nie errichtet wurden« solche »gescheiterten Visionen der Architektur« gesammelt. Er erzählt von fantastischen Planstädten, visionären Formen der Fortbewegung und architektonischen Verkörperungen absoluter Macht. Es ist ein Dokument sowohl von utopischem Denken als auch von Größenwahn.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Da ist zum Beispiel die »Welthauptstadt Germania«, in die Adolf Hitler und Albert Speer Berlin verwandeln wollten. Beanland dokumentiert den faschistischen Größenwahn und zeigt Pläne und Modelle der riesigen Monumentalbauten, die, hätte man sie tatsächlich gebaut, wohl in Berlins sumpfigem Boden versunken wären.

Monumental wäre auch der Palast der Sowjets im Zentrum Moskaus geworden, ein Symbol für Stalins Macht. Das Gebäude sollte am Ufer der Moskwa errichtet werden, wo heute der Neubau der Christ-Erlöser-Kathedrale steht. Die alte Kathedrale wurde 1931 gesprengt, doch der Palast, der von einer hundert Meter hohen Leninstatue gekrönt werden sollte, wurde nie gebaut. Stattdessen entstand an der Stelle ein großes Freibad.

Es sind aber nicht nur überbordende Machtfantasien, die in ihrer Umsetzung scheiterten. Beanland zeigt, dass auch viele Projekte, die auf eine Verbesserung von Lebensbedingungen ausgerichtet waren, nicht umgesetzt wurden. Dazu zählt zum Beispiel das Gemeindezentrum von Birmingham, das in den 1930er- und 40er-Jahren als Komplex mehrerer öffentlicher Gebäude und Wohnblöcke geplant wurde. Gebaut wurde davon schließlich nur die Bibliothek im Stil des Brutalismus, die 2015 abgerissen wurde.

Kurios, aber auch wunderbar stilvoll wirken die Bauhaus-Kioske, die Herbert Bayer 1924 entwarf und die die Einheit von Form und Inhalt wirklich ernst nehmen. Es sind Gebäude, die so aussehen wie das, was in ihnen verkauft wird: Eine überdimensionierte Zigarettenschachtel aus Beton und darauf ein Schornstein in Form einer riesigen Zigarette. Ein anderes nicht verwirklichtes Bauprojekt spiegelt den Siegeszug des Automobils wider: In den 60er Jahren sollte südlich von London die Stadt »Motopia« entstehen, ein zehn Stockwerke hoher Superkomplex, der sich wie ein Gitter in die Landschaft legen sollte. Über die Dächer des gitterförmigen Riesenwohnblocks sollten Straßen führen, an den Verbindungspunkten waren runde Gebäude mit Kreisverkehren darauf vorgesehen. Am Boden sollte die Natur erblühen, während die Autos über den Köpfen der Bewohner*innen hinwegratterten.

Manche der Pläne, die Beanland in seinem Buch vorstellt, klingen so aberwitzig, dass es einen nicht wundert, dass sie nicht realisiert wurden. Doch in der Einleitung betont Beanland, dass generell nur wenige der Projekte, die Architekt*innen planen, tatsächlich realisiert werden. Gescheiterte Architektur bedeutet meist einfach, dass das Budget gekürzt wurde, dass die Auftraggeber*innen es sich anders überlegt haben, dass Politik, Protest, Bauaufsicht oder Geldmangel dazwischenkamen.

»Am Tresen erzählen Leute vom Fach, dass die Hälfte der Branche für Geld irgendwelchen Stuss entwirft und desillusioniert ist. Gefragt ist üblicherweise Hausmannskost, der die Nachwelt keine Bücher widmet: gesichtslose Mietwohnungen, Kaufhäuser und Budgethotels.« Aber trotzdem wagen Architekt*innen es immer wieder zu träumen und über das Funktionale hinauszudenken, auch wenn solche Projekte nur selten tatsächlich umgesetzt werden.

Beanland präsentiert im Band »Bauwerke, die nie errichtet wurden« Pläne, Skizzen und Modelle solcher architektonischer Träume (und einiger Albträume). Dabei konzentriert er sich auf das 20. Jahrhundert, »weil in ihm die aufregendsten Ideen keimten« und sehr viel Optimismus vorhanden war. Man hoffte auf eine Zukunft »voll Überfluss und Freizeit«. Da wir heute pessimistischer in die Zukunft schauen, interessieren wir uns im Moment wohl mehr für die Zukunftsvisionen der Vergangenheit als für unsere eigene Zukunft, meint Beanland. Sein Buch ist eine kurzweilige Zusammenstellung solcher Zukunftsvisionen.

Da Christopher Beanland kein Architekt oder Wissenschaftler ist, sondern Romanautor, sind die Texte, die die vielen Fotos im Band begleiten, nicht akademisch überfrachtet, sondern locker und humorvoll formuliert. Doch an einigen Stellen hätte man sich anstatt der vielen flapsigen Formulierungen mehr Daten und Fakten gewünscht. »Bauwerke, die nie errichtet wurden« bietet einen unterhaltsamen Überblick. Aber wer sich Hintergrundinfos zu den einzelnen Bauwerken wünscht, muss woanders weiterlesen.

Christopher Beanland: Bauwerke, die nie errichtet wurden. Gescheiterte Visionen der Architektur. Prestel, 208 S., geb., 30 €.

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