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- Libyscher Filmemacher Osama Rezg
Ein Kämpfer mit der Kamera
Der libysche Filmemacher Osama Rezg setzt sich für Versöhnung im Land ein
Aus den offenen Fenstern eines Büros in einer kleinen Nebenstraße des Bezirks Lafayette in Tunis dröhnen Schüsse und Geschrei. Doch die Passanten in dem ehemaligen Diplomatenviertel der tunesischen Hauptstadt kümmert es wenig, was in den Räumen einer kleinen Filmproduktionsfirma vor sich geht. Nur einen Kilometer entfernt von der mit Stacheldraht geschützten Botschaft Libyens herrscht normaler Alltag. Der Bürgerkrieg in Libyen und die Massenproteste in Algerien scheinen auf einem anderen Kontinent zu sein. Im Büro der Firma Video Produktion sitzt ein bärtiger Mann und starrt gebannt auf zwei große Bildschirme. Szenen eines Straßenkampfes laufen, Granaten explodieren. Der libysche Filmemacher Osama Rezg verbringt seit Jahren jedes Frühjahr in Tunis, um seine Serien zu schneiden. »Hier kann ich in Ruhe arbeiten, weit weg und doch inmitten der politischen und wirtschaftlichen Probleme, die das Leben in Nordafrika zehn Jahre nach den Aufständen bestimmen«, sagt der 41-Jährige.
Sein Arbeitsrhythmus wird von der vierwöchigen Fastenzeit bestimmt. Während des Ramadan verbringen Familien und Freunde in der arabischen Welt die langen Nächte zusammen und schauen heimische TV-Serien. Für dieses Jahr hatte der bekannteste libysche Regisseur eine heitere Familienserie produziert. Bekannt wurde er aber wegen anderer Filme, bei denen er den Mut hatte, umstrittene Themen wie Migration oder die Konflikte in Libyen nach dem Sturz von Muammar Al-Gaddafi im Jahr 2011 zu thematisieren.
Der Häuserkampf auf den Bildschirmen stammt aus »Ghasaq«, übersetzt Morgendämmerung, eine Serie, die Rezg im Jahr 2019 in der Türkei gedreht hat. Die acht Teile spielen in der im Krieg zerstörten Hafenstadt Sirte. Libyens Regierungsarmee hatte in Al-Gaddafis ehemaliger Heimatstadt 2015 und 2016 die dort verschanzten Kämpfer des Islamischen Staates (IS) vertrieben. 900 junge Soldaten starben, und es gab mehr als 2000 Kriegsversehrte, weil mehrere Tausend IS-Anhänger aus der arabischen Welt bis zu ihrem Untergang Widerstand leisteten. Der IS hatte damals 180 Kilometer der libyschen Küste besetzt und wollte auch Tunesien und das südliche Italien angreifen. In Europa ist die blutige Schlacht nur 300 Kilometer südlich von Sizilien kaum bekannt.
Auf den ersten Blick ähneln die Szenen in »Ghasaq« den üblichen Kriegs- oder Antikriegsfilmen. Die Kamera folgt einer Gruppe von jungen Kämpfern aus dem benachbarten Misrata, das während der Revolution von Gaddafi-Anhängern aus Sirte belagert wurde. Aber wie in allen Produktionen von Rezg gibt es auch in »Ghasaq« kein Hollywood-typisches Schwarz-Weiß-Denken. Die Serienhelden sterben oder scheitern nicht auf dem Schlachtfeld, sondern in ihrem Privatleben an erlittenen Kriegstraumata. Auch die Beweggründe der IS-Kommandeure werden detailliert dargestellt. In »Ghasaq« widmet sich erstmals ein Filmregisseur tiefgründig dem Phänomen des Islamisches Staats.
»Während sich im Ramadan alle Generationen vor dem Fernseher vereint haben, ist das für mich eine große Chance, in Libyen die großen gesellschaftlichen Tabus anzugehen. Es gibt nämlich nur wenige öffentliche Plattformen, auf denen ein gesellschaftlicher Diskurs stattfinden kann. Doch Versöhnung ist nur möglich, wenn der breiten Öffentlichkeit bekannt ist, was tatsächlich passiert ist.« Davon ist Rezg überzeugt: »Wir müssen verstehen, wie es zu den Konflikten gekommen ist und wie wir diese in Zukunft verhindern können. Die allgegenwärtige Propaganda der politischen Gegner führt uns hingegen direkt in den nächsten Krieg.«
Nach vier Jahrzehnten Herrschaft der Gaddafi-Familie und mehr als einem Dutzend lokaler Kriege verlaufen die Frontlinien zwischen Islamisten und Regime-Anhängern, Revolutionären und Menschenrechtsaktivisten oft mitten durch die Familien. Über politisch sensible Themen trauen sich daher selbst enge Freunde nicht zu sprechen.
»Aus Angst vor den Milizen oder um die Sicherheit der eigenen Familie sind auch nur wenige Politiker oder Journalisten bereit, sich gegen Korruption und Vetternwirtschaft zu wenden, die meistens der wahre Grund für die Konflikte sind. Hinter dem Krieg steckt ein Riesengeschäft«, erklärt Rezg. »Das Informationsvakuum nutzen dann Extremisten jeder Couleur für sich.«
Filme zu produzieren ist in dem Bürgerkriegsland alles andere als leicht. Für die Serie »Rubik« versuchte Rezg über mehrere Monate, Genehmigungen und Drehorte zu erhalten. Vergeblich. Die Milizenführer scheuen jede Form von Öffentlichkeit. Rezg hätte den von Migration handelnden Film gerne irgendwo an der 2000 Kilometer langen Mittelmeerküste seiner Heimat gedreht. Schließlich entstand das Drama in Tunesien. Aus Libyens Nachbarland kommt auch die Mehrheit der Schauspieler, Kameraleute sowie die Technik seiner Produktionen.
Seit Filme aus Tunesien regelmäßig internationale Preise einheimsen, ist in dem Vorzeigeland des sogenannten Arabischen Frühlings eine lebendige Filmszene entstanden. Osama Rezg arbeitet in seiner Heimat dagegen fast konkurrenzlos. Nur wenige libysche Filmemacher sind in dem Land mit Afrikas größten Ölvorkommen erfolgreich bei der Suche nach Geld oder Filmteams.
An Themen mangelt es in Libyen hingegen nicht. Rezgs Film »Dragunov« aus dem Jahr 2014 handelt von einem Liebespaar, dessen Familien auf entgegengesetzten Seiten des vor acht Jahren aufflammenden Konflikts stehen und die der Beziehung ein Ende setzen wollen. Der Titel bezieht sich auf ein sowjetisches Scharfschützengewehr, das in den libyschen Bürgerkriegen seit 2011 oft zum Einsatz kommt.
»Dragunov« entstand in Rezgs Heimatstadt Misrata, wo mehr als 200 Milizen vor elf Jahren gemeinsam gegen das Gaddafi-Regime gekämpft hatten. Wegen seiner Herkunft traut sich niemand in Libyen, den Regisseur direkt zu bedrohen – bisher zumindest. Auch wenn »Rubik«, »Dragunov« und »Ghasaq« die Machenschaften von Schmugglern, Milizionären und Menschenhändlern offenlegen. Aber die angespannte Sicherheitslage treibt Filmemacher, Modedesigner, Künstler und andere Kreative zunehmend ins Exil. Das beunruhigt auch Rezg.
International sind seine Filme bislang kaum bekannt. Das habe mit den Vorurteilen gegenüber Libyen und der arabischen Welt zu tun, glaubt Rezgh. »Als arabischer Filmemacher ist es schwer, in europäische oder amerikanische Vermarktungsnetzwerke zu kommen«, sagt er. Das Netflix-Verbindungsbüro in den Vereinigten Arabischen Emiraten hat seine zahlreichen Anfragen bislang nicht beantwortet. In dem Golf-Staat steht man politisch dem Sissi-Regime in Ägypten näher als den ehemaligen Revolutionären in Libyen. »Die arabische Welt ist zudem ideologisch geteilt«, sagt Osama Rezg und bezieht sich auf den Konflikt zwischen den Golfstaaten Katar und Saudi-Arabien. Seit dem sogenannten Arabischen Frühling stehen sich Muslimbrüder und autoritäre Familiendynastien gegenüber: »In dem libyschen Stellvertreterkrieg wird man automatisch auf der einen oder anderen Seite eingeordnet«, erklärt Rezg.
Aus Libyen berichten daher meist europäische oder amerikanische Analysten, Journalisten oder Filmemacher. Aus dem Angriff auf das US-Konsulat von 2012 in Bengasi, bei dem der damalige Botschafter Chris Stevens ums Leben kam, drehte der US-Regisseur Michael Bay den Hollywood-Actionstreifen »13 Stunden«. Die gescheiterte Rettungsaktion der US-Armee wird darin durch Verzerrung der tatsächlichen Geschehnisse zu einem Heldenepos zwischen feindlich dreinschauenden Libyern.
Osama Rezg hat seine Fertigkeiten durch nächtelanges Analysieren solcher Hollywood-Schinken erlernt, zu einer Zeit, als die westliche Kultur in Libyen noch geächtet wurde. In London besuchte er dann mehrere Filmhochschulen und fand mit der Dokumentation über den libyschen Philosophen Sadiq Nayhoum erstmals Beachtung in der Branche. Mit mehreren Filmpreisen in der Tasche hätte er in London, Kairo oder Beirut Karriere machen können, aber er zog es vor, während der Revolution nach Libyen zurückzukehren.
Dabei ist er in seinem Heimatland durchaus umstritten. Mit Produktionen wie »Omar Mukhtar« über den berühmten libyschen Widerstandskämpfer stand er in Tripolis und Bengasi in der Kritik. Die Stars seiner Filme seien oft aus den Nachbarländern, beschwerten sich viele. »Wir sind eine Gesellschaft der Widersprüche«, erklärt Rezg aufgebracht. »Weil die meisten Libyer relativ konservativ sind, wollen sie nicht, dass ihre Kinder Schauspieler oder Künstler werden. Andererseits wird gefordert, dass meine Serien von libyschen Schauspielern gedreht werden. Das ist absurd.« Mangels guter Schauspielagenturen hat er sich mittlerweile ein eigenes Archiv von Talenten aus der arabischen Welt angelegt. »Ich sehe mir ständig Produktionen aus Algerien, Ägypten oder Marokko an und mache Screenshots von den Leuten, die mir gefallen.«
Weil er die Dreharbeiten von »Ghazag« in den kurdischen Ort Suruj unweit der syrischen Grenze verlegen musste, um dort die Schlacht um Sirte nachzuspielen, wurde die Arbeit am Set kompliziert. Die Komparsen sprachen nämlich nur Türkisch oder Kurdisch, die Schauspieler aber Arabisch oder Englisch. Deshalb musste jede Szene von Übersetzern vorbereitet werden. Syrische Flüchtlinge aus Aleppo und Damaskus wurden dafür angestellt, da nur wenige Türken Englisch sprechen. »Wenn unsere Übersetzer den Komparsen die nächste Szene erklären wollten, dann hat jeweils ein Drittel das nicht verstanden. Also hatten wir Sub-Übersetzer, das waren türkische Kurden. Nach acht Wochen Dreharbeiten waren auch die 60 technischen Spezialisten mit den Nerven am Ende.«
Offiziere der türkischen Armee lieferten dem Filmteam jeden Morgen Waffen, damit sie den Häuserkampf von Sirte nachstellen konnten. »Das hat viel Zeit gekostet«, erinnert sich Rezg. Dabei hätte es schnell gehen müssen. Licht, Ton, Action verändern sich rasch bei solch einem Film. Aber anders als in Libyen bemühte sich die Türkei um gute Produktionsbedingungen: »Ich habe alle Drehgenehmigungen online beantragt und nach wenigen Tagen erhalten«, erinnert er sich.
Für die Finanzierung seiner Filme geht Rezg bei libyschen Geschäftsleuten hausieren. Seitdem er Chefredakteur des TV-Senders Salam aus Tripolis ist, kritisieren Kollegen allerdings eine Nähe zum ebenfalls aus Misrata stammenden Premierminister Abdelhamid Dbaiba. Rezg allerdings kommt es einzig auf die Versöhnung an: »In Libyen gibt es Städte und Stämme, die sich heute aufgrund von Geschichten, die 50 oder sogar 70 Jahre zurückliegen, in einem Konflikt befinden. Meine Botschaft lautet, diese Stämme zu versöhnen und nicht die Ursprünge dieser Konflikte erneut zu diskutieren.«
Sein Ziel ist es außerdem, auch in Libyen eine Filmindustrie aufzubauen. »Es macht mich traurig, dass das einzige Bild, was die Welt derzeit von Libyen hat, Krieg, Milizen und Waffen sind. Es gibt viele Künstler und gebildete Menschen, die es verdienen, gehört zu werden, weil sie dafür kämpfen, ihr Land wieder zum Leben zu erwecken. Ich bin nur einer von ihnen.«
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