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Aus der Asche
Am Samstag endeten die Filmfestspiele von Cannes. Ruben Östlund wurde für seine Kapitalismusparodie »Triangle of Sadness« geehrt und auch die Exil-Iranerin Zar Amir Ebrahimi wurde ausgezeichnet
Mit einer seltsamen Ehrung hat die 75. Ausgabe des Cannes-Filmfestivals begonnen. Der Hollywood-Schauspieler Tom Cruise erhielt anlässlich der Premiere von »Top Gun: Maverick«, einer Fortsetzung des Blockbusters »Top Gun« (1986), eine Ehrenpalme, während Luftwaffenjets über das Gelände des Festivals flogen. Warum ausgerechnet Tom Cruise an der Côte d’Azur mit solch einem unangebrachten Spektakel geehrt werden sollte, fragten sich viele. Gab es dafür einen tiefgründigen Sinn, oder hatte das überhaupt eine Relevanz?
Tiefe und Relevanz konnte man jedenfalls in etlichen Filmen des diesjährigen Wettbewerbs finden. Eines der stärksten Werke war »Tori et Lokita« (»Tori und Lokita«) von den Brüdern Jean-Pierre und Luc Dardenne, das von einem kleinen Jungen namens Tori und einer bald 18-Jährigen, Lokita, handelt. Die beiden sind mit einem Flüchtlingsboot aus Afrika nach Belgien gekommen. Sie arbeiten nun in einer Pizzeria als Lieferant*innen – nur ist das, was sie liefern, keine Pizza, sondern Cannabis. Tori hat schon eine Aufenthaltsgenehmigung, Lokita wiederum braucht noch eine. So geben sich die beiden als Geschwister aus, damit Lokita nicht abgeschoben wird – und damit sie einen legalen Job finden kann.
· Goldene Palme für den besten Film: »Triangle of Sadness« von Ruben Östlund
· Großer Preis der Jury ex aequo: »Close« von Lukas Dhont und »Stars at Noon« von Claire Denis
· Preis der Jury ex aequo: »Eo« von Jerzy Skolimowski und »Le otto montagne« von Felix Van Groeningen und Charlotte Vandermeersch
· Bester Darsteller: Song Kang-ho (»Broker«)
· Beste Darstellerin: Zar Amir Ebrahimi (»Holy Spider«)
· Beste Regie: Park Chan-wook (»Decision to Leave«)
· Bestes Drehbuch: Tarik Saleh (»Boy from Heaven«)
· Spezialpreis des 75. Filmfestivals: »Tori et Lokita« von Jean-Pierre und Luc Dardenne
Der Film erzählt in einem langsamen Rhythmus die Geschichte dieser Flüchtlingskinder, die sowohl vom belgischen Pizza-Bäcker als auch von den afrikanischen Menschenschlepper*innen ausgenutzt werden. Dabei brauchen Jean-Pierre und Luc Dardenne keine besonders dramatischen Effekte zu verwenden, um die Grausamkeit darzustellen, mit der sich diese Kinder konfrontiert sehen. Die Gewalt wird in aller Ruhe ausgeübt. Und dadurch wirkt sie umso erschreckender. Auch dem System und dessen Beamt*innen sind diese Kinder und ihre Situation gleichgültig. So versuchen die beiden, beieinander Halt zu finden. »Tori und Lokita« gewann den Spezialpreis der 75. Festivalausgabe.
Es konkurrierten insgesamt 21 Beiträge um die Goldene Palme, die am Samstagabend verliehen wurde. Frankreich und Belgien waren mit den meisten Produktionen vertreten. Es gab keinen Film aus Deutschland, dafür zwei Titel aus Südkorea, die jeweils auch wichtige Preise gewonnen haben: den für die beste Regie (Park Chan-wook für das Detektivdrama »Decision to Leave«) und den für den besten Darsteller (Song Kang-ho für »Broker«).
Die Goldene Palme hat der Schwede Ruben Östlund für »Triangle of Sadness« erhalten. Das ist das zweite Mal, dass er mit dem höchsten Preis des Cannes-Filmfestivals ausgezeichnet wird. Auch 2017 gewann er für »The Square« die Palme d’Or. Die Geschichte parodiert den Kapitalismus und die Dekadenz der Reichen: Auf einer Luxusyacht befinden sich alle möglichen Millionäre; ein russischer Oligarch, ein Dünger-Großhändler, der ständig allen erzählt: »I sell shit!« (Ich verkaufe Scheiße), ein britisches Ehepaar, das Explosionswaffen produziert. Und natürlich auch Models und Influencer*innen. Das Schiff wird von Piraten überfallen – dabei benutzen sie Waffen der Firma des britischen Paars. Einige Gäste überleben und landen auf einer Insel. Eine Putzfrau ist auch mit dabei. Die Einzige, die weiß, wie man Fische fängt oder Feuer macht. So herrschen bald auf der Insel andere Verhältnisse und Hierarchien. Die Putzfrau wird zur Chefin.
Einer der schönsten Filme dieses Festivals lief jedoch nicht im Wettbewerb, sondern in der Sektion Un Certain Regard: »The Blue Caftan« der marokkanischen Regisseurin Maryam Touzani erzählt von einem Paar, das einen kleinen Kaftan-Laden in der Handelsstadt Salé betreibt. Die Frau, Mina, leitet den Laden. Der Mann, Halim, fertigt die traditionellen Kleider im Hinterraum an. Er ist ein ruhiger Mensch, nobel, liebt seine Arbeit, ist eine der wenigen Personen, die immer noch mit der Hand nähen. Da es Mina nicht gut geht, suchen sie eine Aushilfe. Als der junge Youssef dort eingestellt wird, bleibt Mina nicht verborgen, wie Halim diesen bei der Arbeit anstarrt. Die Szenen bestehen überwiegend aus Nahaufnahmen, die Gefühle werden durch Blicke mitgeteilt. Eine äußerst sanfte Geschichte über die Liebe und Menschlichkeit – weit entfernt von den Klischees über arabische Männer und Frauen.
Die Auszeichnungen auf so einem renommierten Festival mögen Anerkennung, Erfolg oder Ruhm bedeuten, doch für manche ist es ein überraschender Neubeginn: Als die beste Darstellerin wurde die Exil-Iranerin Zar Amir Ebrahimi ausgezeichnet. Die 41-Jährige ist die einzige iranische Frau bis jetzt, die einen solchen Preis gewonnen hat. Im Crime-Thriller »Holy Spider« des in Skandinavien lebenden iranischen Regisseurs Ali Abbasi spielt sie die Rolle einer Journalistin, die den Fall eines Frauenserienmörders recherchiert und sich dafür sogar als Prostituierte ausgibt, um ihm auf die Spur zu kommen. Der Film, der in Jordanien gedreht wurde, ist von der wahren Geschichte eines Serienmörders inspiriert, der in der iranischen Stadt Mashhad 16 Prostituierte aus religiösem Motiv umgebracht hat.
Im Iran erlebte Amir Ebrahimi als junge Fernsehschauspielerin einen realen Horror. Wegen eines privaten Sex-Videos von ihr, das im Netz landete, wurde ihr das Leben zur Hölle gemacht – von der Gesellschaft wie von der Obrigkeit. Gerade mit ihrer Karriere angefangen, musste sie ihr Land verlassen und ging nach Paris. Jahre hat sie sich nur gerade so über Wasser halten können. Ihre Auszeichnung in Cannes war einer der emotionalsten und bedeutendsten Momente des Festivals; man hat sie den Phönix des iranischen Kinos genannt.
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