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Die gespaltene Gesellschaft und ihre Freunde
Mit Autofahrern leben im 21. Jahrhundert? Ein Selbstversuch
In der Phraseologie des gemeinen Dummschwätzers hat eine abgedroschene Wortverbindung mal wieder Konjunktur: Wir leben in Zeiten der »gespaltenen Gesellschaft«, heißt es. Spaltung ist immer und überall. Wo nicht absolute Einigkeit herrscht – zum Beispiel in Fragen der Kriegsbereitschaft und der damit verbundenen todessehnsüchtigen Aufrüstung im zwölfstelligen Euro-Bereich –, da muss etwas anderes herrschen: Zerrissenheit nämlich, um nicht zu sagen – Sie wissen schon – Spaltung. Risse und Spalten markieren allerhand Trennlinien zwischen Gruppen, bei denen man auch vorher schon Unterschiede ausgemacht hat, ohne es aber zwanghaft in so dämliche Worte zu packen.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Das lässt sich auch an meiner Person exemplifizieren: Als äußerst urbanes Wesen bin ich abgespalten von der ländlichen Bevölkerung, und ich bin, wenn auch nicht mehr ganz gelenkig, noch jung, jedenfalls verglichen mit der greisen Boomer-Generation. Diese beiden Determinanten sorgen dafür, dass ich leichtfüßig und führerscheinlos durchs Leben gehe. Unvorstellbar für die Alten, denen das Automobil Freiheits- und Statussymbol ist. Nicht zu fassen auch für die Landexistenzen, für die jeder Einkauf ohne motorisiertes Fahrzeug zum Tagesmarsch würde.
Für mich wiederum ist es kaum zu glauben, dass Menschen mehr als 2000 Euro für die Lizenz zum lebensbedrohlichen Rasen verballern und freiwillig auf das erhebende Gefühl verzichten, mit der Untergrundbahn in Windeseile durch die ganze Stadt chauffiert zu werden, während man genüsslich David Foster Wallace liest. Ist Verständigung in Zeiten der gesellschaftlichen Spaltung überhaupt noch möglich?
Wer von der gespaltenen Gesellschaft salbadert, der predigt auch die notwendige Überwindung der Spaltung. Da auch ich mich nicht immer der Wirkung dieser pathosgeladenen Sprache entziehen kann, habe ich mich zu einer tiefgründigen Selbsthinterfragung hinreißen lassen: Ist es nicht an der Zeit, mein autofreies Glück, das auch auf der Verachtung der vermeintlich geistlosen Kraftfahrer fußt, zumindest mit einem Fragezeichen zu versehen? Woher kommt diese maßlose Überheblichkeit bei mir? Spricht daraus nicht eine erschreckende Ignoranz anderen Lebensrealitäten gegenüber?
Immerhin – ich bin ein einigermaßen lernfähiger Mensch. Wo gerade noch Engstirnigkeit herrschte, kann sich morgen schon der freiheitsliebende Nimbus des Autofahrers zeigen. Na ja, ich hab’s versucht.
Sehnsüchtig schwelgte ich zunächst in Erinnerungen: Alle meine Mitschüler hatten in der zwölften Schulklasse ihren Führerschein gemacht – dann ging das große Gezanke los, wer denn tatsächlich fahren und also nüchtern bleiben müsse, weil es nach einer bierseligen Nacht an der Ostsee mit dem Auto zurückgehen sollte. Ich war immer fein raus und legte mich schon mal auf die Rückbank. Schön war’s.
Die fetten Jahre sind vorbei, sagt man. Ich suchte also nach einer Fahrschule in der Nähe und meinte es ernst mit meinem Versuch. Daher informierte ich mich vorab über alle Notwendigkeiten auf der überaus abstoßend gestalteten Website. Den obligatorischen Sehtest absolvierte ich am folgenden Wochenende. Leider wurde dabei festgestellt, dass meine Hornhautverkrümmung sich entscheidend verändert habe, sodass ich sofort eine neue Brille benötigte, was für ein maulwurfsgleiches Wesen wie mich sogar bei einem Kassenmodell eine äußerst kostspielige Angelegenheit ist. Das Ganze nahm also keinen guten Anfang.
Den Erste-Hilfe-Kurs gedachte ich am darauffolgenden Sonntag zu belegen. Eine falsche Adresse und die Verkettung recht unglücklicher Umstände führte zu einer halbstündigen Verspätung meinerseits. Diese Verfehlung hatte zur Folge, dass ich für die weiteren sieben Stunden für die zwei Dutzend 17-Jährigen im Raum als lebendes Demonstrationsobjekt zur Verfügung zu stehen hatte, während sie an mir einübten, wie man eine bewusstlose Person über den Boden schleift oder jemanden in die stabile Seitenlage befördert. Ich möchte nicht mit Details langweilen. Nur so viel sei verraten: Im Ernstfall hätte mich die so bezeichnete Erste Hilfe durch den einen oder anderen wohl das Leben gekostet.
Es war mir fast entfallen, aber doch – jetzt wurde es mir wieder schmerzlich bewusst. Schon im Alter von sechs Jahren, recht bald nach meiner Einschulung, stellte sich bei mir eine tiefe Abneigung gegen das institutionalisierte Lernen, gegen autoritäres Gehabe von Pädogogen und gegen die Auslieferung an gnadenlose Menschengruppen ein, die offenbar bis heute anhält. Ich hatte nichts dagegen, einen Führerschein zu erhalten, ich war sogar bereit, dafür zu bezahlen. Aber der Weg dahin schien mir doch etwas beschwerlich.
Die sehr junge Sekretärin des Fahrschulunternehmens, bei dem ich in die Lehre zu gehen gedachte, sprach mit mir auf idiotensichere Weise. Sie zeigte mit ihren sehr langen, rosa lackierten Nägeln, wo ich unterzeichnen sollte. Sie nahm mein Geld entgegen. Und schließlich erklärte sie ganz genau, wie nun alles vonstattengehen würde. In besonders eindrücklicher Erinnerung ist mir ihr ausschweifender Hinweis geblieben, ich müsse jede Fahrstunde, wenn ich sie gebührenfrei stornieren wolle, zwei Werktage vorher absagen. Dafür nahm sie einen Kalender von der Wand und rechnete mir an mehreren Beispielen vor, wie man den Zeitpunkt bestimmen könne. Ich schaute sie wohl etwas ungläubig an. Jedenfalls fühlte sie sich nun bemüßigt, mir alle Werktage in Abgrenzung zum Wochenende aufzuzählen. Mir kamen langsam, aber sicher Zweifel an dem ganzen Unterfangen.
Mit der Frage, ob es denn ein Lehrbuch gebe, verblüffte ich die junge Frau wiederum. »Buch?«, fragte sie irritiert. Nach einigem Nachdenken blitzten ihre Augen auf: »Ach, Sie meinen die App.« Ich erwarb also eine App für 30 Euro, in der rein gar nichts erklärt wird, aber haufenweise »prüfungsrelevante« Fragen auftauchen, die ich durch einige Klicks beantworten konnte. Nach je drei Fragen wurde ich mit Werbeanzeigen von Autohändlern oder Versicherungsunternehmen behelligt. Der Opfergang des Fahrschülers ist gespickt mit allen Unannehmlichkeiten der konsumistischen Welt.
Mich kennzeichnet eine gewisse Leidensfähigkeit. Ich gab nicht auf und begann mit dem Theorieunterricht. Mir gefiel auch die Idee, mich so kurz vor dem Untergang des Autozeitalters um einen Führerschein zu bemühen, gewissermaßen im Zeichen einer anachronistischen Schrulligkeit. Es ist dem pandemischen Geschehen der letzten Jahre und dessen Eindämmungsversuchen zu verdanken, dass ich vom heimischen Bildschirm aus die Theoriestunden besuchen konnte.
Mir war es sehr recht, nicht in einem Raum mit einem Haufen jugendlicher Autoenthusiasten verbringen zu müssen, die den unangenehmen Geruch der Pubertät noch nicht ganz abgelegt haben. Zwecks Anwesenheitsüberprüfung wurde aber penibel darauf geachtet, dass alle Teilnehmer unentwegt ihr Gesicht in die Laptopkamera hielten. Bei einem Regelverstoß war man sofort der Mahnung der selbstherrlichen Fahrlehrer ausgesetzt.
Das führte in meinem Fall dazu, dass ich 90 Minuten den finsteren, fast tödlichen Blick meines unverhofften Schicksalsgenossen Cooper ertragen musste und über denselben Zeitraum Hassan zusehen konnte, wie er mit einem Zahnstocher in seinem Mund rummachte. Ich bin ein Genussmensch, den schönen Dingen des Lebens zugetan – schönen Versen, eindrücklicher Kunst, gutem Essen –, diese Stunden verletzten mein ästhetisches Empfinden zutiefst. Wie in längst vergangenen Zeiten hatte ich auf meinem Schoß Bücher versteckt, um heimlich einen Blick auf etwas Interessanteres erhaschen zu können als das, was in dem Unterricht dargeboten wurde.
Die Fahrlehrer konnten bei ihren unvorbereiteten Erläuterungen, die rhetorisch jedes bisher gekannte Niveau unterschritten, selten darauf verzichten, ihren geballten Hass auf Fahrradfahrer und Umweltschützer zu verlautbaren. Eine Frau, die ihren Lebensunterhalt mit der Vermittlung von Verkehrsregeln verdient, offenbarte schon zu Beginn einer Stunde, dass sie einmal einen Radfahrer fast totgefahren hätte. Keiner der Lehrer verzichtete darauf, mehrfach zu betonen, dass die unterrichteten Vorschriften ausschließlich dazu dienen, die Prüfung zu bestehen. Danach könne man sich im Straßenverkehr benehmen wie der durchschnittliche Fahrer auf Berlins Asphalt: also rücksichtslos, laut und dumm, ohne Achtung vor dem eigenen oder dem Leben anderer, aber ausgestattet mit dem anmaßenden Auftreten desjenigen, der glaubt, die Welt zu beherrschen.
Um diese Erfahrungen reicher, hat sich auch in meinem Kopf das Bild von der gespaltenen Gesellschaft verfestigt. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob denn wirklich jede Kluft überwunden werden muss. Das Eintauchen in fremde Welten kann uns reifer, schlauer, empathischer machen. Mitunter aber lässt es uns auch nur verstört zurück. Lieber umrunde ich dreimal täglich den Berliner S-Bahn-Ring zu Fuß, als mich noch mal in die Fänge der Autofahrerkaste und ihrer höllischen Ausbildungsinstitute zu begeben. Vier von 14 Theorieeinheiten hatte ich durchgestanden, bevor ich aufgegeben habe. An die Fahrpraxis habe ich mich gar nicht erst herangewagt. Ich war schon immer eher der theoretische Typ.
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