Tief ist der Brunnen der Vergangenheit

Hannes Wader schenkt sich neue Songs zum 80. Geburtstag

  • Michael Girke
  • Lesedauer: 3 Min.

Nach seinem vor ein paar Jahren aus Altersgründen vollzogenen Rückzug aus der Öffentlichkeit erscheint dieser Tage unverhofft ein neues Album von Hannes Wader. Dessen schöner Titel »Was ich noch singen wollte« weist das Werk als eine Art Liederzyklus gewordenes Nachwort aus: Alles mir Wichtige habe ich längst zum Ausdruck gebracht, schicke hier bloß noch ein paar lose Brocken hinterher. Sich ja nicht zu wichtig nehmen.

Noch schöner als sein Titel ist der Umstand, dass dieses pünktlich am Beginn von Waders neuntem Lebensjahrzehnt erscheinende Album ziemlich bemerkenswert geraten ist. Am Beginn werden Zeilen von Hölderlin zitiert, diesem in Wahnsinn gefallenen Dichter, Außenseiter der Goethezeit, der erst lange nach seinem Ableben zu Lesern und Ehren kam: »Aber das Saitenspiel tönt fern aus Gärten/ vielleicht, dass dort ein Liebendes spielt oder ein einsamer Mann/ ferner Freunde gedenkt und der Jugendzeit«. Das sind Zeilen aus Hölderlins Wunder von Gedicht »Brot und Wein«; Zeilen über die Kraft der Musik, die wie keine andere Kunst in Seelentiefen zu dringen vermag und das, was dort womöglich unter Schichten verschüttet liegt, weckt, wieder fühlbar macht.

Späterhin zitiert Wader in seinem Song »Vorm Bahnhof« mehrfach Karl Marx. Beispielsweise diese Sätze: »In unseren Tagen scheint jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger zu gehen. Wir sehen, dass die Maschinerie, die mit der wundervollen Kraft begabt ist, die menschliche Arbeit zu verringern und fruchtbarer zu machen, sie verkümmern lässt und bis zur Erschöpfung auszehrt. Die neuen Quellen des Reichtums verwandeln sich durch einen seltsamen Zauberbann zur Quelle der Not.«

Manche mögen fragen, ob Musik hier nicht zur Flüstertüte von – linker – Gesellschaftstheorie degradiert, zur zwar gut gemeinten, aber schlechten Kunst wird. Ganz im Gegenteil, lautet die Antwort. In »Vorm Bahnhof« erzählt Wader Kapitel aus dem absurden und zerstörerischen und leidvollen kapitalistischen Alltag, und er nimmt drei Stellen aus Marx so in seinen dabei leise und ungemein intensiv werdenden Song hinein, dass die Frage im Raum steht, ob Marx’ Sätze nicht verdammt lange 150 Jahre nach ihrer Entstehung noch immer hellsichtig sind, sie uns also bei der Analyse der Aktualität vielleicht helfen könnten?

Neben Hannes Waders eigenen neuen Songs gibt es auf »Was ich noch singen wollte« etliche Coverversionen, werden etwa Stücke von Mikis Theodorakis, Friedrich Spee von Langenfeld (einem vor 400 Jahren wirkenden Kirchenlieddichter) oder welche aus der deutschen Volksmusiktradition interpretiert. Auf seinem neuen Album agiert Wader ähnlich wie Bob Dylan bei seinen allseits gelobten Spätwerken. Wo Dylan zurückgeht und anknüpft an die Wurzeln der amerikanischen Songtradition, geht Wader zurück zur europäischen Tradition. Dass es bei ihm nicht wie bei Dylan um Blues, Country und Walt Whitman, sondern um Volkslieder, Kirchenlieder und Hölderlin geht, macht es nicht weniger cool. Vor allem ist »Was ich noch singen wollte« wohltuend vielschichtig und gehaltvoll. Mit anderen Worten: Wader führt unserem so geschichtsvergessenen wie flachen Musikbetrieb vor Augen, welche Schönheit, Tiefe und politische Sprengkraft in der mithin uralten hiesigen Musiktradition steckt. Der nimmermüde Musikbewahrer und Erneuerer Hannes Wader begeht heute seinen achtzigsten Geburtstag.

Hannes Wader: »Noch hier. Was ich noch singen wollte« (Stockfisch)

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