Klassenkampf im Nobeldorf

Hunderte Menschen demonstrieren auf Sylt für die Umverteilung von Reichtum

  • Robert D. Meyer, Westerland
  • Lesedauer: 4 Min.

»Da stehen keine Preise«, wundert sich Miriam Becker. Fragend zeigt die Hamburgerin auf den Aushang im Ladenfenster eines Immobilienhändlers. »Warum, kann man sich doch denken«, antwortet jemand von der Seite. Becker nickt wissend. »Stimmt. Aus ihrem wahren Reichtum machen die hier ein großes Geheimnis«, sagt die Hamburgerin und wendet sich ab.

Über Geld spricht man nicht, man hat es – es gibt kaum einen anderen Ort in Deutschland, wo dieser Satz mehr gilt als in Kampen, einer kleinen Ortschaft auf der Insel Sylt ganz oben am nördlichsten Ende der Bundesrepublik. Offiziell gemeldet sind in der Gemeinde keine 500 Menschen, an diesem Samstag mitten im Juli schwillt Kampen aber auf ein Vielfaches dessen an. Es ist Hauptsaison auf Sylt, tausende Tourist*innen bevölkern die Insel, machen Tagesausflüge – auch nach Kampen. Wer es sich leisten kann – und das sind von den jährlich fast eine Million Gästen auf Sylt die allerwenigsten –, kauft in einer der zahlreichen Boutiquen ein, die es im kleinen Kampen gibt. Ein Porsche vor der Haustür gehört hier beinahe zur Grundausstattung. Villen unter Reetdach in bester Lage kosten auch schon mal 30 Millionen Euro. Im Osten Kampens mit unverbautem Blick auf das nordfriesische Wattenmeer liegt die teuerste und exklusivste Wohngegend Deutschlands. Bei vielen Villen handelt es sich nur um Zweitwohnsitze, ihre reichen Eigentümer*innen verbringen oft nur wenige Wochen im Jahr in Kampen. Es gibt sogar Häuser, die bleiben komplett unbewohnt und dienen als reine Kapitalanlage.

Diese für Normalverdienende kaum vorstellbare extreme Häufung von Reichtum ist der Grund, warum das Bündnis »Wer hat, der gibt« Kampen als Ziel seines Protestes auf Sylt gewählt hat. Laut den Veranstalter*innen beteiligten sich am Samstag bis zu 700 Menschen an der Demonstration, die von Westerland, der zentralen Inselhauptstadt, in das sechs Kilometer entfernte Nobeldorf zieht. Vorneweg fährt ein Transporter, auf dessen Dach ein aufblasbarer Flamingo sitzt, aus den Lautsprechern dröhnt Musik, wobei »Westerland«, der wohl bekannteste Titel der Berliner Band »Die Ärzte« nicht fehlen darf. Dahinter reihen sich neben Punks auch Familien mit ihren Kindern ein, regionale Gruppen von Fridays for Future mobilisierten ebenso zu diesem Aktionstag wie die Linkspartei. Die große Mehrheit der Teilnehmer*innen reiste dafür vom Festland an, viele kommen aus Flensburg, Kiel, aber auch aus Hamburg und sogar Nordrhein-Westfalen.

Zugereiste Aktivist*innen, die nichts über die Insel wissen? Sylts Bürgermeister Nikolas Häckel (parteilos) äußerte im Vorfeld der Proteste Bedenken: »Sylt hat eine bunte Gesellschaft wie jede andere Stadt – mit ihren Sorgen und Nöten und Menschen, die hart für ihren Lebensunterhalt arbeiten«, schrieb Häckel auf seiner Facebookseite und mahnte: »Niemand sollte dies vergessen, die Medien sollten dies nicht ignorieren und Demonstranten sollten schauen, ob Sylt für ihre Parolen wirklich der richtig gewählte Ort ist.« Häckels Sorgen erweisen sich als unbegründet.

Auch wenn manche Botschaften pointiert sind, so ist etwa auf einem Banner die Forderung »Wir nehmen euch alles weg« zu lesen, macht auch das Bündnis »Wer hat, der gibt« klar: Sylt ist nur als Symbol für extreme gesellschaftliche Widersprüche gemeint. Genauso sieht dies der Landesvorsitzende der Partei Die Linke in Schleswig-Holstein, Oleg Gussew. »Wir richten uns an die Menschen, die unter den immer stärkeren Belastungen ächzen, auch hier auf Sylt. Die Mieten auf der Insel sind immens hoch, die Lebenshaltungskosten steigen immer weiter«, erzählt Gussew. Er redet über Beschäftigte in der Gastronomie, im Tourismus, aber auch Krankenpfleger*innen und Kita-Erzieher*innen, die sich die Mieten kaum noch leisten können, sofern es für diese Menschen überhaupt Wohnraum gibt. Als ein Ergebnis pendeln schon heute rund 4500 Menschen vom Festland zur Arbeit auf die Insel. »Sylt zeigt uns zugespitzt, wie die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht«, sagt Gussew. Viele dieser Probleme lassen sich nur politisch lösen. Gussews Forderungen deshalb: ein Sondervermögen für Lebenshaltungskosten, die Einführung eines Mietendeckels sowie eine Übergewinnsteuer.

Maßnahmen, die helfen könnten, nicht nur Armut auf Sylt zu bekämpfen, hofft auch Becker. Am Abend fahren sie und andere Demonstrierende gemeinsam mit vielen Tagestourist*innen im vollen Zug zurück aufs Festland. Sylt hat seine trügerische Ruhe zurück.

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