Funktionäre des Kollektivs

Kunst und Kollektiv (5): Über autonome Kunst in der kapitalistisch verfassten Gegenwart

  • Gesa Foken und Gerhard Schweppenhäuser
  • Lesedauer: 5 Min.
Vertreter des Informel, wie etwa der Maler Peter Brüning (hier abgebildet 1958 bei der Arbeit), galten den Situationisten als zu bürgerlich und individualistisch.
Vertreter des Informel, wie etwa der Maler Peter Brüning (hier abgebildet 1958 bei der Arbeit), galten den Situationisten als zu bürgerlich und individualistisch.

Mit dem gemeinwohlorientierten Grundsatz der Documenta 15, den die ruangrupa-Kurator*innen gewählt haben, steht ein Modell künstlerischer Praxis im Fokus, in dem Einzelne hinter dem Gruppenanliegen verschwinden. Symptomatisch dafür ist die Beschilderung der Kunstschau. Sie sieht zugunsten des Gruppennamens von präzisen Hinweisen auf Beteiligte ab, unabhängig davon, ob es sich, wie etwa in den Stadtmöbelobjekten von El Warcha, um ein variierbares Konstruktionsprinzip handelt, oder aber, wie in den Einzelexponaten des Wajukuu Art Project, um Malereien und Objekte mit individuellem Ausdruck. Aufsehenerregend an der Schau ist nicht, dass sich bildende Künstler*innen zu Gruppen zusammenschließen – der Erfolg von Kunstduos wie Gilbert & George, Eva & Adele oder auch Fischli/Weiss verdeutlicht, wie arriviert dieses Konzept auf dem Kunstmarkt ist. Aufsehenerregend ist, dass die Thematisierung gemeinschaftlicher Produktion erneut gesellschaftliche Utopiebildung ist. Damit schließt sie an die künstlerischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts an.

Das gemeinsame Projekt der Avantgarden im frühen 20. Jahrhundert war eine Aufhebung der Kunst in Lebenspraxis. Im Europa der Zwischenkriegszeit suchten politische und ästhetische Avantgarden nach Formen einer neuen Totalität, die zusammenführen sollten, was im Verlauf der Moderne auseinandergefallen war: Kultur, Gesellschaft, Politik, Ökonomie und Kunst. Ihre Konzepte antworteten auf die paradoxe Zwangskollektivierung durch die Konkurrenz gewissermaßen vogelfreier Lohnarbeiter*innen. Zu den Schlüsselerfahrungen gehörten die Traditionsbrüche eines technisierten, arbeitsteilig rationalisierten und ökonomisierten urbanen Lebens. Die Avantgarden feierten die radikale Individualisierung der Künstler*innen, die Konventions- und Traditionsbrüche und die brutale Neuorganisierung der menschlichen Wahrnehmungsweise, die mit dem Leben in den Metropolen für die neuen Proletarier- und Angestelltenmassen einherging.

Große Teile der Avantgarde interpretierten diese Phänomene als Durchgangsstadien bei der Formation einer neuen Kollektivität, als Zeichen für Fortschritt und Revolution. Der Surrealismus und andere Gruppen propagierten das Konzept radikalster Kunstautonomie, Heartfield und Brecht arbeiteten an einer Politisierung der Ästhetik. In der frühen Sowjetunion und in der Weimarer Republik wurden ästhetische und politische Avantgarde parallel laufend verkoppelt, entweder als staatliches Projekt oder als kritisch-bürgerliche beziehungsweise proletarische Gegenöffentlichkeit. Solche internen Differenzierungen bleiben in der pauschalisierenden Identifikation des Totalitätsanspruchs der ästhetischen Avantgarden mit dem politischen Totalitarismus unberücksichtigt, die seit der Postmoderne Konjunktur hat.

Die ästhetischen Avantgarden postulierten, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit durch Kunst organisiert werden sollte. In Europa und in den USA erlebte dieses Programm in den 1960 Jahren eine Renaissance. Noch 1964 propagierte der Fluxus-Künstler George Maciunas die Orientierung an der sowjetischen Avantgarde. An der Zeit sei die Selbstauflösung von Kunst durch Kunst beziehungsweise die gesellschaftliche Indienstnahme künstlerischer Fähigkeiten für Journalismus, Design, Architektur und Ingenieurwissenschaften. Wie im Manifest der Situationistischen Internationale von 1960 trat auch Maciunas für Anonymität und Antiindividualismus der Produktionsweise ein. Wie konfliktreich die Auseinandersetzungen um kollektiv tragbare künstlerische (Handlungs-)Formen damals waren, zeigt sich in den berühmten Ausschlussprozessen der Situationistischen Internationale, ebenso in der Eindampfung der Bewegung nove tendencije auf die vordergründig technikorientierte nova tendencija. Beiden Strömungen gemeinsam ist die Suche nach kollektiven Arbeitsformen, der Protest gegen das mit bürgerlichem Subjektivismus gleichgesetzte Informel sowie eine dezidiert linke politische Programmatik. Zugleich zeigen beide im Bereich bildender Kunst zwei erstaunlich konträre Entwicklungslinien kollektiver Neoavantgarde auf.

Die mit der nove tendencije verbundenen kybernetisch orientierten Zusammenschlüsse der italienischen Gruppen der arte programmata stehen für entindividualisierte Formensprachen und eine technikaffine visuelle Praxis. Ihr Spiel mit motorisierten Objekten und optischen Effekten führte zum massenpublikumstauglichen und dezidiert kapitalismuskonformen OpArt-Phänomen sowie zur Integration in die kommerziell orientierte visuelle Computertechnik. Hier zeigt sich das von Maciunas geforderte Aufgehen von Kunst in Gebrauchskunst – allerdings nicht als Werkzeug einer neuen, kommunistisch orientierten Gesellschaft, sondern als Schmiermittel kapitalistischer Übereinkünfte.

Die bildnerisch kaum produktive orthodoxe Linie der Situationistischen Internationale zeigt dagegen eine verspätete ästhetische Wirkkraft. Die von ihr behauptete Psychogeografie von Stadt und die Forderung eines neuen Urbanismus wirken heute im Verständnis von Stadt als kollektiv geprägtem und zu gestaltendem Raum. Im Bereich der Architektur zeigten sich gegenwärtig »Mikro-Utopien«, so die Architekturtheoretikerin Sandra Meireis. Sie sind auch unter dem Stichwort des commoning, des gemeinsamen Tuns, verortbar – ein wichtiger Bezugspunkt der Documenta 15. Insofern Stadtinterventionen nicht zum urbanen Erlebnispark werden, sondern Eigentumsverhältnisse und Übereinkünfte isolierten Wohnens infrage stellen, sind sie womöglich als gelungene Formen künstlerischer Selbstauflösung anzusehen. Damit kann aber nicht gesagt werden, dass sich die Ausrichtung der diesjährigen Documenta als konsequentes Folgeprojekt nachavantgardistischer Strömungen lesen lässt. Die zwei eingangs erwähnten Formationen etwa integrieren etwas ins Ausstellungsgeschehen, das als kunstpädagogische Praxis beziehungsweise als Stärkung von Kindern und Jugendlichen durch Kultur zu lesen ist. Deren Tun entzieht sich womöglich nicht deshalb einer personellen Auflistung von Mitwirkenden im Ausstellungsraum, weil alle Arbeiten durchgängig gemeinschaftlich erarbeitet werden, sondern weil Namensnennung an Exponaten zur Hierarchisierung innerhalb heterogener Zusammenschlüsse führt.

Bei aller Wichtigkeit künstlerischer Handlungsformen in gemeinwohlorientierten Praxen bleibt die Frage, ob die Vorstellungen künstlerischer Avantgarde, die Etablierung größtmöglicher Individualität bei gleichzeitig kollektiver Ausrichtung, nicht über das commoning hinausgehen. Misstrauen ist angebracht, wenn das Phantasma einer Gemeinschaft, deren Mitglieder im inneren Wesen miteinander verbunden sind, gegen die kalte, wurzellos-anonyme Gesellschaft ausgespielt wird, deren Angehörigen solche Bindung vermeintlich fehlt. Ästhetischer Aktionismus lenkt die Aufmerksamkeit von Einzelarbeiten weg. Sie werden scheinbar unwichtig – sind es aber keineswegs, was sich etwa am antisemitischen Gehalt einzelner Erzeugnisse zeigt. Auch die Neoavantgarden der 1960er Jahre wollten den Werkcharakter der Kunst auflösen. Dabei geriet allerdings deren Widerstandskraft unter die Räder. Kritik wurde integriert, Verweigerung transformiert ins Mitmachen. Im Autonomieversprechen der künstlerischen Avantgarde ist eine Utopie enthalten, in der Individuen nicht in Konflikt mit der Gesellschaft stehen und keine Gruppierung zur Interessensbewahrung zu etablieren gezwungen ist. Die von Maciunas geforderte Selbstauflösung der schönen Künste in funktionale Handlungen – in Hinblick auf die Documenta 15 könnte man die pädagogische Praxis hinzufügen – ist nur in einer Gegenwart erstrebenswert, in der Einzelne nicht in Konflikt zur Gesellschaft geraten. Die Forderung nach künstlerischer Autonomie ist so lange akut, wie von einer befreiten Gesellschaft nicht die Rede sein kann.

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