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Eine andere Form von Wühlarbeit
Nur eine kleine Minderheit der Deutschen leistete Widerstand gegen den Nationalsozialismus, noch heute sind diese Menschen und ihre Nachkommen im Erinnerungsdiskurs weitgehend unsichtbar. Ein Forschungsprojekt will das ändern
Frau Amelung, Sie arbeiten an dem Forschungsprojekt »Kinder des Widerstands und deren Kinder – Folgen von Verfolgung und Widerstand (1933–1945) auf die nachfolgenden Generationen« mit. Kommen Sie und die anderen Forschenden selbst aus Familien, die Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet haben?
Gabriele Amelung ist Psychoanalytikerin in eigener Praxis, Lehranalytikerin und Dozentin. Sie ist als Angehörige eines Kindes des Widerstands aktiv in der Gruppe »Kinder des Widerstands Hamburg«.
Nein, unser gemeinsamer Hintergrund besteht darin, dass wir Psychoanalytiker*innen und Psychotherapeut*innen sind. Zwei von uns sind selbst »Kinder des Widerstands«, einer ist aktiv im »Internationalen Komitee Buchenwald«. Einige haben allerdings im Laufe des Projektes angefangen, sich die eigene Familiengeschichte noch mal genauer anzuschauen. Dabei begleitet uns Andreas Hamburger von der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin.
Wir betreiben qualitative Forschung, die unter der Annahme operiert, dass die Forscherin nicht neutral von außen schaut, sondern selbst sowohl Einfluss ausübt als auch beeinflusst wird. Dies versuchen wir durch intensive Beschäftigung damit zu berücksichtigen, was es bedeutet, wenn Nachfahren von Mitläufern und Tätern auf Nachfahren von Widerstandskämpfer*innen treffen. Darüber werden wir uns einerseits in Kleingruppenarbeit familiengeschichtlich austauschen und andererseits unser Augenmerk darauf richten, was das für unsere Interviewpartner*innen bedeuten könnte. So können wir, wenn alles gut geht, sowohl sie als auch uns selbst besser verstehen und das Ganze in einem Beziehungsgeflecht sowie dem gesellschaftlichen Kontext verorten.
Wie ist denn das Forschungsprojekt aufgebaut?
Das Ganze hat die Form einer qualitativen Mehrgenerationen-Studie, das heißt, es werden Interviews mit mindestens zwei Generationen einer Familie geführt. Die Zielgruppe sind Nachkommen von Menschen aus dem politischen Widerstand, sprich Kommunist*innen, Sozialdemokrat*innen und Gewerkschafter*innen. Vereinzelt möchten wir auch Christen befragen, dies ist aber nicht der Schwerpunkt. Geografisch haben wir uns auf Norddeutschland begrenzt.
Es gibt zwei wichtige Forschungsziele: Erstens die Dokumentation von Erinnerungen und das Öffentlich-Machen der bisher wenig beachteten Erfahrungen der Gruppe der Widerständler*innen und ihrer Nachfahren. Zweitens die Frage, welche Werte, Haltungen, eventuell Aufträge transgenerationell weitergegeben wurden. Wie gingen die Familien mit traumatischen Erfahrungen um? Welche Rolle spielt gesellschaftliche Anerkennung in der Verarbeitung von Traumata? Gibt es Unterschiede zwischen der zweiten und der dritten Generation?
Wie gingen Sie in den Interviews vor?
Das erste Interview beginnt mit einer offenen Frage: Sie wissen ja, dass ich mich für den Widerstand und Verfolgung während des Nationalsozialismus interessiere. Können Sie mir sagen, in welche Familie Sie hineingeboren wurden und welchen Einfluss diese auf den Menschen gehabt hat, der Sie heute sind? Im zweiten, halboffenen Interview wird dann nach Dingen gefragt, die im ersten Gespräch nicht klar geworden sind, etwa in Hinblick auf die Wirkungen von Widerstand und Verfolgung auf die Widerstandskämpfer*innen oder familiäre und gesellschaftliche Reaktionen. Des Weiteren fragen wir nach der Bedeutung der Familiengeschichte für die Interviewten selbst sowie die Erfahrungsweitergabe an die zweite und dritte Generation: Was haben Sie Ihren Kindern und Enkeln erzählt? Was ist Ihnen in deren Erziehung besonders wichtig? Schließlich interessieren wir uns auch für die Handlungsebene: Was erleben Sie angesichts des Schicksals Ihrer Angehörigen als Auftrag, in deren Sinne weiterzuarbeiten?
Über die Fragen hinaus soll das zweite Interview aber auch dazu dienen, das erste Gespräch mit aufzufangen, weil dies viele Interviewte sehr aufwühlt. Und wir beziehen uns auch als Forscher*innen selbst mit ein, das ist ein Bestandteil von qualitativer Forschung und deren Auswertung. Dazu gehört zum Beispiel, sich anzuschauen, warum wir als Interviewer*innen Schuldgefühle haben. Viele von uns waren vor den ersten Interviews sehr aufgeregt, obwohl wir alle Menschen sind, die etwa als Kliniker*innen tätig sind und beruflich viel mit Menschen sprechen. Es war auffällig, dass da so eine große Aufregung bestand.
Und wie erklären Sie sich das?
Naja, mit Angst: in etwas einzudringen, nicht richtig zu reagieren – zumal angesichts der familiengeschichtlich vermittelten Dynamik zwischen Tätern, Mitläufer*innen und Widerständler*innen. Hier wirkt ja Geschichte weiter. Ausserdem haben wir intensiv besprochen, dass wir die Interviewten nicht pathologisieren wollen. Das war auch Thema in der Gruppe Kinder des Widerstands, diese Angst, dass die ehemaligen Widerstandskämpfer und -kämpferinnen nun auch noch pathologisiert werden. Ich musste dabei an Jean Améry denken, der in »Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten« seine Traumatisierung durch Folter beschreibt. Besser kann man das eigentlich nicht darstellen, aber er selbst hat später darauf bestanden, er sei nicht traumatisiert. Vielleicht aus Angst, dass seine Leistung dann nur noch unter einem psychopathologischen Gesichtspunkt gesehen wird. Wir haben unsere Fragestellung deshalb dahingehend erweitert, dass es neben den Traumata auch um die eventuelle Weitergabe von Werten, Haltungen und eben »Aufträgen« geht.
Ein Weg, aus der Psychologisierung herauszukommen, könnte sein, die Person auch als politisch handelnde anzusprechen. Aber man kann ja wiederum nicht unterstellen, dass das überhaupt der Fall ist. Das scheint mir eine interessante Gratwanderung.
Stimmt, das ist es. Viele unserer Interviewtpartner*innen kommen aus der Gruppe Kinder des Widerstands und sind schon ihr Leben lang politisch aktiv, ebenso viele der Enkel. Trotzdem kann es sein, dass man unter den Aufträgen auch leidet, die man von der vorherigen Generation erhalten hat oder aus deren Erfahrungen ableitet. Oder darunter, dass die gesellschaftliche Anerkennung fehlt, man »außen vor« ist. Wir sind an persönlichen Geschichten interessiert, und für einige Interviewpartner*innen war es schlicht erleichternd, auch einmal über sich selbst sprechen zu können.
Beim Stichwort »außen vor« möchte ich auf die kommunistischen Widerstandskämpfer*innen zu sprechen kommen, auf die das besonders zutrifft. Denn verfolgte Sozialdemokrat*innen und auch religiös Verfolgte haben sicher aufgrund der Tatsache, dass sie damals wie jetzt in der deutschen Gesellschaft ganz anders integriert sind, ein anderes Erleben der Verfolgungsgeschichte.
Ja, das erwarten wir auch. Wobei ich gerade an ein Interview mit einem Sozialdemokraten denke, der sich erinnerungspolitisch sehr engagiert hat und dann enttäuscht war, dass das innerhalb der SPD nicht genügend Anerkennung findet – ebenso wie sein Vater. Oder dass mittlerweile einige Jüngere sagen, jetzt muss es doch mal gut sein mit der Geschichte.
Ich finde, hier ergibt sich eigentlich einen Widerspruch: Die SPD ist seit Jahrzehnten oft Teil der Bundesregierung und spielt in dieser Rolle immer wieder die Präsenz von Nazis in Deutschland herunter. Vor dem Hintergrund leuchtet es ein, dass sich jemand mit einer NS-Verfolgungsbiografie innerhalb der SPD nicht gesehen fühlt. Die Sozialdemokratie verdrängt seltsamerweise, dass sie selbst im Faschismus auch wieder unter den Opfern wären. Die Situation der Kommunist*innen ist anders, die spielen derzeit im politischen Szenario in der BRD keine Rolle.
Da würde ich ihnen zustimmen. Auch für uns stellt es sich bisher so dar, als würde sich eine Nicht-Anerkennung bei den Nachfahren der kommunistischen Widerstandskämpfer*innen wiederholen. Wir schauen allerdings eben mehr aufs Persönliche als auf die politische Aktivität, weil die Seite der Ambivalenz oder des Leidens oft keinen Raum finden konnte.
Dass die Opfergruppe der politischen Widerstandskämpfer*innen und ihre Nachkommen wenig Beachtung in der Forschung finden, ist auch gesellschaftspolitisch begründet. Laut den Psychoanalytikern Mitscherlich vollzog die deutsche Mehrheitsbevölkerung nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus eine »Derealisation«, als sei »alles nur ein böser Traum« gewesen. Es gab keine Bearbeitung der Greueltaten, keine Trauer um die Opfer und damit auch keine Anerkennung von Schuld. So gesehen kann die Gruppe der Widerstandskämpfer*innen schon deshalb keinen Platz bekommen, weil sie die Mehrheitsgesellschaft an ihre Schuld erinnert. Das könnte aufgrund – auch unbewusster – transgenerationaler Weitergabe auch noch die Enkelgeneration betreffen. Deswegen ist es uns wichtig, dass diese Gruppe stärker ins kollektive Gedächtnis rückt; wir kooperieren darin übrigens mit der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, die unsere Interviews archiviert und dadurch zugänglich macht.
Kann denn die Forschung zur Shoah auch für das Phänomen des politischen Widerstands aufschlussreich sein? Haben Sie selbst auch schon zur Shoah gearbeitet?
Für Shoa-Überlebende, die Extrem-Traumatisierungen ausgesetzt waren und deren Nachfahren sind die Prozesse transgenerationaler Weitergabe relativ gut untersucht: Die für die erste Generation unerträglichen Gefühle, Konflikte, das traumatische Erleben werden unbewusst abgespalten und an die nächste Generation weitergegeben. Wir vermuten allerdings, dass sich die Weitergabe in der von uns untersuchten Gruppe anders gestaltet.
Ich persönlich habe sieben Jahre in einer Forschungsgruppe über Thomas Harlan mitgearbeitet. Da ging es auch um transgenerationale Weitergabe von Erfahrungen bezüglich Holocaust und Krieg.
Aber Thomas Harlan war ja Täternachkomme …
Genau. In dem Zusammenhang wurde mir auch klar, dass nicht nur viel über die Shoa geforscht und veröffentlicht wird, sondern auch viel mehr über Täterkinder und -enkel als über die Kinder der Widerstandskämpfer*innen.
Ich vermute, dass Sie »1968« in irgendeiner Form als Bezugspunkt erlebt haben, an dem etwas entstanden ist, das bis in die Gegenwart fortwirkt. Haben Sie im Zuge von »68« in diesem weiteren Sinne eine Veränderung in den bundesdeutschen Erinnerungsdiskursen beobachtet?
Ja, das habe ich. Zum Ende der 70er Jahre fing es zum Beispiel in Hamburg mit den Erinnerungsorten und der Literatur dazu an. Dann entstanden in vielen Vierteln sogenannte Geschichtswerkstätten. Lange stand hier die Shoah im Mittelpunkt, aber seit den Neunzigern geht es eben viel um Täterforschung, dann folgte ein Interesse für die »Kriegskinder«. Die Schwerpunkte haben sich also verschoben, aber die Widerstandskämpfer*innen bleiben weiter unterbelichtet. Da kann ich Max Czollek gut verstehen, der darauf aufmerksam macht, dass wir als Deutsche die Erinnerungskultur auch dazu benutzen, uns sozusagen freizusprechen.
Zum Weiterlesen:
Amesberger/Halbmayr/Clemens:
Meine Mama war Widerstandskämpferin.
Netzwerke des Widerstands und deren
Bedeutung für die nächste Generation.
Picus Verlag 2019.
Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne.
Bewältigungsversuche eines Überwältigten.
Klett-Cotta 1973.
Mitscherlich, A. und M.: Die Unfähigkeit zu
trauern: Grundlagen kollektiven Verhaltens.
Piper Verlag 1967.
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