- Kultur
- Faschismus
Der Mahnruf verhallte
Vor 90 Jahren warnte Clara Zetkin als Alterspräsidentin des Deutschen Reichstages vor der unmittelbar drohenden Gefahr einer faschistischen Diktatur –
Im Sommer 1932 stand die Weimarer Republik kurz vor ihrem Ende. Hitler und seine Nazipartei kamen ihrem erklärten Ziel, die politische Macht in Deutschland zu übernehmen, jeden Tag einen Schritt näher. Unterstützung erhielten sie dabei von den bürgerlichen Parteien, die keinen Ausweg mehr aus einer politischen und sozialen Krise sahen, die sie in den vorangegangenen Jahren selbst befördert hatten.
Am 30. Mai 1932 war Reichskanzler Brüning, der seit März 1930 unter weitgehender Ausschaltung des Reichstages mittels Notverordnungen des Reichspräsidenten regiert und dabei eine Politik des massiven Sozialabbaues betrieben hatte, zum Rücktritt gezwungen worden. Hindenburg und die Männer hinter ihm hielten den Zeitpunkt für gekommen, nunmehr eine Reichsregierung zu etablieren, die nicht mehr auf die parlamentarische Tolerierung durch die Sozialdemokratie angewiesen war. Bei einem offiziellen Gespräch im Amtssitz des Reichspräsidenten erklärte sich Hitler unter zwei Bedingungen bereit, eine solche Regierung von Technokraten zu unterstützen: Er forderte die Aufhebung des seit wenigen Wochen geltenden Verbotes der SA und Neuwahlen zum Reichstag. Er war überzeugt, dass seine Partei einen triumphalen Erfolg erzielen würde.
Hitler sollte sich nicht irren. Bei den vorgezogenen Wahlen am 31. Juli 1932 konnte die NSDAP mit 37,3 Prozent ihr Ergebnis im Vergleich zu 1930 mehr als verdoppeln und wurde wählerstärkste Partei. Die SPD folgte mit deutlichem Abstand. Sie erreichte 21,6 Prozent und kam vor der Zentrumspartei (15,7 Prozent) und der KPD (14,3 Prozent) auf Platz 2.
Älteste Mitglied des neugewählten deutschen Parlaments war Clara Zetkin, die dem Deutschen Reichstag bereits seit 1920 als Abgeordnete der KPD angehörte. Ihr würde die Aufgabe zufallen, als Alterspräsidentin die erste Sitzung des Reichstages am 30. August 1932 mit einer Rede zu eröffnen. Doch es war keineswegs selbstverständlich, dass Clara Zetkin diese Rede auch würde halten können.
Clara Zetkin lebte seit Ende der 1920er Jahre in einem doppelten Exil in Moskau. Ihr fortgeschrittenes Alter und ihre angegriffene Gesundheit machten eine ständige medizinische Betreuung erforderlich, die sie in einem Sanatorium nahe Moskau erhielt. Vor allem jedoch war sie trotz ihrer scheinbar herausgehobenen Stellung in der KPD und in der Kommunistischen Internationale nahezu vollständig von allen wichtigen Entscheidungen ihrer Partei ausgeschlossen – auf Grund ihres realpolitischen Verständnisses wurde sie von ihren Genossen als »Parteirechte« stigmatisiert. Ihr persönliches Verhältnis zu Ernst Thälmann, dem Mann an der Spitze der KPD, war – vorsichtig formuliert – seit vielen Jahren angespannt, denn Clara Zetkin hatte im Sommer 1927 in einem persönlichen Brief an Nikolai Bucharin, dem damaligen Vorsitzenden der Kommunistischen Internationale, massive, aber sachlich begründete Kritik an Thälmanns Politik und seinem Führungsstil geübt. (Es ist bezeichnend, dass Thälmann in der Folge von einem »Drecksbrief« sprach.)
Doch an der Spitze der KPD hatte man offensichtlich die große Chance erkannt, die sich mit dem Auftritt Clara Zetkins als Alterspräsidentin des Reichstages und einer landesweit im Rundfunk übertragenen Rede bot, und alle Bedenken und Vorbehalte hintan gestellt. Mit großem Aufwand wurde die Reise von Clara Zetkin nach Berlin vorbereitet. Mehrere Genossen wurden zu ihrem persönlichen Schutz abgestellt, unter ihnen Herbert Warnke, später in der DDR Chef des FDGB, des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes. Minna Ewert, die Schwester des von führenden Funktionären als »Versöhnler« denunzierten Arthur Ewert, kümmerte sich um die medizinischen Belange und begleitete die fast blinde und schwerkranke Frau bis zum Plenarsaal des Reichstages. Man habe sich in diesem Augenblick kaum vorstellen können, so der spätere Bericht eines Zeitzeugen, dass Clara Zetkin überhaupt in der Lage sein würde, eine große Rede zu halten.
Clara Zetkin sprach rund vierzig Minuten und mobilisierte dabei buchstäblich ihre letzten Kraftreserven. Ihre Rede war nicht frei von Irrtümern und Fehleinschätzungen, die wohl vor allem aus ihrem schon verzweifelten Wunsch resultierten, dass tatsächlich eine anrollende revolutionäre Welle den Faschismus in kürzester Zeit hinwegspülen würde. Doch mit ihrer klaren und entschiedenen Forderung nach einer »Einheitsfront aller Werktätigen« sprach sie die entscheidende Frage jener Tage an. Bereits im Juni 1932 hatten sich Albert Einstein, Heinrich Mann, Käthe Kollwitz und weitere Persönlichkeiten mit einem »Dringenden Appell« an die Spitzen von KPD und SPD gewandt, die gegenseitige Feindschaft endlich zu überwinden und gemeinsam gegen die drohende Gefahr einer faschistischen Diktatur vorzugehen. Nun erneuerte Clara Zetkin vor dem Plenum des Reichstages diesen Appell: »Das Gebot der Stunde ist die Einheitsfront aller Werktätigen, um den Faschismus zurückzuwerfen, um damit den Versklavten und Ausgebeuteten die Kraft und die Macht ihrer Organisationen zu erhalten, ja sogar ihr physisches Leben. Vor dieser zwingenden geschichtlichen Notwendigkeit müssen alle fesselnden und trennenden politischen, gewerkschaftlichen, religiösen und weltanschaulichen Einstellungen zurücktreten. Alle Bedrohten, alle Leidenden, alle Befreiungssehnsüchtigen in die Einheitsfront gegen den Faschismus und seine Beauftragten in der Regierung!«
Doch ihr Mahnruf verhallte ungehört. Weder in der Führung der KPD noch in der Führung der SPD gab es die Bereitschaft, den tödlichen Bruderzwist zu beenden und sich zu einer ehrlichen Zusammenarbeit im Kampf gegen den Faschismus zusammenzufinden, obwohl es an der Basis beider Parteien immer wieder spontane Versuche gab, diese Einheitsfront aus eigener Kraft herzustellen. Der Fortgang der Geschichte ist bekannt. Nur fünf Monate nach der Rede Clara Zetkins im Deutschen Reichstag wurde Hitler Reichskanzler.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.