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Wenn es losgeht
Lässige Personen in Belfast? Fehlanzeige: Der Roman »Amelia« von Anna Burns
Am Abend des 14. August 1969 wurde der 27-jährige katholische Busschaffner Samuel McLarnon von einem Polizisten der Royal Ulster Constabulary (RUC) erschossen, als er in seinem Haus in der Herbert Street im nördlichen Belfaster Stadtteil Ardoyne gerade die Jalousien herunterließ. In dem Episodenroman »Amelia« von Anna Burns spielt die 8-jährige Amelia Boyd Lovett mit ihren Freundinnen und Freunden in Ardoyne an jenem Tag auf der Straße. Amelias Freudin Bossy sagt: »’s geht heute los. In Derry isses schon losgegangen. ’s wird gefährlich, und das heißt was Schlimmes. Das heißt, dass wir nicht mehr hier spielen können.«
Die in Ardoyne aufgewachsene und seit 1987 in England lebende Burns wurde 2018 für ihr Buch »Milchmann« mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet, »Amelia« erschien bereits 2001 unter dem Originaltitel »No Bones« und war ihr Romandebüt.
Darin verweist sie immer wieder auf die fatale Beziehung der Menschen in Nordirland zueinander, die mit dem Begriff »Sectarianism« zu bezeichnen ist, für den es keine adäquate deutsche Übersetzung gibt. Dabei handelt es sich um eine extrem ideologisierte soziale Spannungsbeziehung mit durchgängig alltäglicher Bedeutung. Die Wahrnehmung und Aufrechterhaltung des Unterschieds zwischen Protestanten und Katholiken hat soziale Signifikanz in Bezug auf alle Merkmale, Erscheinungen und Formen des nordirischen Lebens. Sie wird gebrochen und in diesem Bruch ständig perpetuiert durch den sektiererischen Staat und seine Körperschaften auf der Grundlage britischer Oberhoheit.
In »Amelia« wird der »Sectarianism« in der Episode »Echos, 1978« am deutlichsten. Amelia nimmt an einem Jugendberufsbildungsprogramm teil, bei dem die Schulabgänger beider Konfessionen zusammengebracht werden sollen. Als die Jungs dort feststellen, dass Protestanten und Katholiken ein bisschen zu nah beisammenstehen, gibt es Gerangel und Gestichel und es fallen Worte wie »Pass bloß auf, du Fenierbastard« und »Verpiss dich, Oranierdrecksau«. Die Katholikin Bernie stört sich an dem Namen »Lester« eines Jugendlichen, der aus dem protestantischen Shankill-Viertel kommt: »Protestantisch-englisch irgendwie. Ich würde enterbt werden, wenn ich mit einem gehen würde, der Lester heißt.« Amelia sagt zu Bernie, es könne eben nicht jeder wie ihr Freund Ignatius St Stephen Findbarr heißen. Auf dem Höhepunkt der euphemistisch »Troubles« genannten Ereignisse trieben die loyalistischen Schlächter von Shankill ihr Unwesen, folterten und mordeten. Im Roman wird Amelias Freund Danny Megahey ins Herz von Shankill verschleppt und umgebracht.
In der Schilderung des Lebens von Amelia bis zum Jahr 1994 wird drohende Schwangerschaft in Verbindung gebracht mit der Gewalt, wie sie dem Zufallsopfer Danny widerfuhr. Unter biopolitischer Kontrolle flüchtet sich Amelia in Anorexie, Alkoholismus und Psychosen. Als sie endlich ihren Traum wahrmachen, Belfast den Rücken zu kehren und nach London abhauen kann, landet sie dort in der Psychiatrie und danach in einer »Schneid dir die Kehle auf, gib mir das Laken-Obdachlosenunterkunft«. Eine ebenso herrische wie paranoide englische Vermieterin, die ihr Küchenfenster mit dicken Holzbohlen und engen Nagelreihen (zweitausend Stück, schätzt Amelia) verrammelt hatte, wollte sie nicht beherbergen, weil Amelia heterosexuell war.
Der schwarzen Pädagogik verpflichtete Nonnen zwingen Amelia und ihre Klassenkameraden unter Einsatz eines Rohrstocks ein Friedensgedicht zu schreiben, wobei sich die Schülerinnen fragen: »Warum über etwas schreiben, das niemanden interessierte?« Die RUC-Polizisten in Belfast treten mit einer gewaltigen Alkoholfahne auf, aber auch die dem irisch-republikanischen Milieu zuzurechnenden Romanfiguren werden von Burns nicht mit Sympathie gezeichnet, mit Ausnahme von Fünfjährigen, die »Ya, ya – Scheißbriten« und »Briten raus!« rufen und die britischen Soldaten mit Steinen bewerfen.
Da ist Vivienne Dwyer, die immer adrett aussieht, Klassenbeste ist und sich nicht auf der Suche nach Busenfreundinnen befindet. »Sie war natürlich in der IRA und eine unbekannte Größe.« Aloysius Fallon bringt das ihm anvertraute Geld für die IRA-Gefangenen im Lager Long Kesh beim Wetten, Saufen und bei Nutten durch und erhängt sich. Ein anderer Republikaner versenkt persönlich sechzehn Kugeln in den Beinen von vier »Querulanten«. Da ist Lizzie, Amelias Schwester, die etwas Konfrontatives dem Sex vorzieht. »Sie war jung, gutaussehend, rücksichtslos und frei und hatte die Ewigkeit und die Grausamkeit auf ihrer Seite.« Sie trat der Provisional IRA nie bei, weil die Provisionals sie nicht haben wollten, und sie trat der Irish National Liberation Army (INLA) nie bei, weil die INLA zu sehr mit ihren internen Fehden beschäftigt gewesen sei.
Lizzie richtet die Gewalt schließlich gegen sich. Da ist Bronagh McCabe, die ihre Kinder nach irischen Helden benannt hat – Wolfe Tone, Henry Joy, Kevin Barry, Patrick Pearse und James Connolly – und dominierenden und sehr schnellen Sex haben muss, bevor sie für die IRA in Aktion treten kann. Und da ist Janto, »ein wahrer, guter Ire«, den der Neid auf einen chinesischen Imbissbudenbesitzer zu einem Rassisten macht.
»Wer hatte je von einer lässigen Person gehört, die in Nordirland lebte und am Ende auch wirklich eine war?« heißt es an einer Stelle. Und lässig geht es auch nicht zu, als die aus dem London der »Monster, Marodeure und Mörder« nach Belfast zurückgekehrte Amelia mit ein paar Leuten einen Tagesausflug unternimmt, »eine völlige Niedagewesenheit«. Die Neo-Ausflügler gelangen irgendwie nach Ballycastle an der Causeway Coast im Nordosten Nordirlands und setzen mit einem Boot nach Rathlin Island über. Dort werden sie jedoch von einem Insulaner namens Ambrose Gray bedroht und verfolgt und stellen sich bei ihrer Rückkehr die Frage, was, wenn sie nicht wieder hätten gehen können? Wie hätten sie dort leben und nicht dauernd auf Angriff gepolt sein sollen, wenn immer wieder Leute wie Ambrose Gray auftauchten?
Anna Burns: Amelia. A. d. Engl. v. von Anna-Nina Kroll. Tropen Verlag, 382 S., geb., 25 €
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