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  • Geschichte der Industrialisierung

Strukturwandel als Konstante

Die kapitalistische Gestaltung der Welt bestimmt die Verteilung des Reichtums. Das betrifft ganze Gegenden: In Deutschland verringerte frühe Industrialisierung mancherorts langfristig die Wirtschaftskraft

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 6 Min.
Hier war die Industrialisierung noch ein Novum: die »Erste Allgemeine Deutsche Industrieausstellung« 1854 in München.
Hier war die Industrialisierung noch ein Novum: die »Erste Allgemeine Deutsche Industrieausstellung« 1854 in München.

Allenthalben schwirren die Webstühle, rasseln und hämmern die Räder und Walzen in den mechanischen Betrieben», heißt es in einem Reiseführer aus dem Jahre 1891. Beschrieben wird Neumünster, das «Manchester Schleswig Holsteins». Heute würdigt die Stadt ihre reiche Industriegeschichte in dem beeindruckenden Museum Tuch + Technik. Die fünftgrößte Stadt des nördlichsten Bundeslandes ist kein Einzelfall: Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein waren viele Industriebetriebe im Norden angesiedelt. In der deutschen Industriegeschichte gab es ein Nord-Süd-Gefälle – das ist nun museale Vergangenheit. Heute liegen wichtige Wirtschaftszentren vornehmlich in südlichen Regionen des Landes.

Die wirtschaftlichen Gewichte auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik haben sich in den vergangenen hundert Jahren grundlegend verschoben: Die Regionen in der nördlichen Landeshälfte mit ehemals hoher Wirtschaftskraft, hohen Löhnen und aus heutiger Sicht traditionellen Industrien haben eine starke Deindustrialisierung durchgemacht und sind im regionalen Ranking des Bruttoinlandsprodukts massiv zurückgefallen. Beispiele hierfür sind das Ruhrgebiet, Bremen, aber eben auch Schleswig-Holstein und andere Küstengebiete. Viele süddeutsche Regionen hingegen, insbesondere in Bayern, haben den Aufstieg von einer rückständigen, landwirtschaftlich geprägten Wirtschaft zu neuen, innovativen Industriezentren geschafft.

Tücken der Frühindustrialisierung

Die frühe Industrialisierung einiger (nördlicher) Regionen schwächte langfristig deren Wirtschaftskraft. Zu diesem zunächst kurios anmutenden Schluss gelangt das Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in einer aktuellen, englischsprachigen Studie, die gemeinsam mit Forschern der Universität Bayreuth erstellt wurde. Die Autoren führen diesen Umschwung auf regionale Unterschiede in der Frühindustrialisierung im 19. Jahrhundert zurück. Erstaunlicher erscheint dem Lesenden, dass diese Differenzen beinahe die Hälfte des derzeitigen Nord-Süd-Gefälles beim Pro-Kopf-Einkommen erklären sollen.

Dass einige Regionen bereits Ende des 19. Jahrhundert sehr industriell geprägt waren, beeinflusst die (west-)deutsche Wirtschaftsgeografie bis heute entscheidend. Anfangs profitierten die früh industrialisierten Zentren in der nördlichen Landeshälfte. «Aber die Abhängigkeit dieser Regionen von großen, kapitalintensiven Unternehmen – oft in Schwerindustrien wie Kohle, Eisen und Stahl – war für die wirtschaftliche Entwicklung nur bis Mitte des 20. Jahrhunderts von Vorteil», sagt Paul Berbée, Studienautor und Wissenschaftler im ZEW-Forschungsbereich «Arbeitsmärkte und Sozialversicherungen» in Mannheim.

Mit Blick auf Neumünster und die Küstenregionen wäre wohl zu ergänzen, dass die Wasserkraft der Flüsse und die Nähe zu den großen Seehäfen mit ihren kapitalstarken, investitionsfreudigen Handelsunternehmen und damit der Zugang zu den weltweiten Lieferströmen der Gegend entscheidenden Vorsprung verschaffte. Ähnliches gilt für das Ruhrgebiet mit seiner Nähe zum Rhein, der es mit den Häfen Rotterdam und Antwerpen verbindet. Ab den 1950er Jahren, so die ZEW-Autoren, stellten sich genau diese Regionen aber als weniger anpassungsfähig heraus als solche im stärker diversifizierten Süden.

Seitdem wirkt sich frühe Industrialisierung mit ihren festgefahrenen Strukturen nachteilig aus. Eine Arbeitsmarktregion, die im Jahr 1882 eine um 10 Prozentpunkte höhere Industriebeschäftigung aufwies, steht noch im Jahr 1957 im Einkommensranking von 163 Regionen um 27 Plätze besser da als eine ansonsten vergleichbare Region. Doch im Jahr 2019 hat sich der Vorteil in einen Nachteil verwandelt: Die Region ist nun 24 Plätze schlechter. Diese Entwicklung führte dazu, dass insbesondere in der nördlichen Landeshälfte Deutschlands viele Regionen, die 1926 noch vergleichsweise wohlhabend waren, 2019 zu den Ärmeren zählen.

Während der 60er und 70er Jahre konnten viele relativ rückständige Regionen dann in der Bundesrepublik wirtschaftlich aufholen, so dass die regionale Ungleichheit sogar stark zurückging. Seit etwa 1980 nehmen die regionalen Gegensätze jedoch wieder deutlich zu. «Unsere Ergebnisse deuten insbesondere darauf hin, dass es sich langfristig negativ auswirken kann, wenn sich Regionen zu stark von einzelnen Sektoren abhängig machen», zieht Berbée sein Fazit. Die Wissenschaftler hatten für ihre Analyse das Gebiet der alten Bundesrepublik (ohne das Saarland) in 163 regionale Arbeitsmärkte aufgeteilt. Analysiert wurde die Einkommensentwicklung in den Jahren 1926 bis 2019. Dazu werteten die Forscher Daten der Umsatzsteuerstatistik und der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen der Länder aus. Die Studie misst den Grad der Frühindustrialisierung anhand von regional tiefgegliederten Daten aus der Berufszählung des Jahres 1882.

Der Wandel hat viele Gesichter

Die etwas hölzerne Einteilung in Nord/Süd verweist eigentlich auf ein grundlegenderes Phänomen: den Wandel. Strukturwandel und damit den Wandel von Chancen dürfte es zwar «schon immer» gegeben haben. Doch die moderate Veränderung der mittelalterlichen Agrarwirtschaft zog sich noch über lange Jahrhunderte hin. Beschleunigt wurde die Transformation erst im Rahmen der Industrialisierung: Dampfkraft, Eisenbahn, Chemie und Elektro, Automobil und Flugzeug, Elektronik und Digitalisierung. Beschleunigung, häufig als Effizienzsteigerung verharmlost, scheint sogar das eigentliche Merkmal des modernen Kapitalismus zu sein.

Im Ergebnis schrumpften Agrarwirtschaft und Industrie – gemessen an der wirtschaftlichen Leistung, dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) – in allen entwickelten Volkswirtschaften. Deren Ausstoß an Produkten aller Art stieg jedoch gewaltig. Dienstleistungen, auch als Anhängsel der Industrieproduktion, gewannen an Bedeutung. Die Wirtschaft insgesamt schwoll an: Im Vergleich zu 1990 wuchs sie in Westeuropa bis 2019 um gut 60 Prozent, rechnete der Präsident des ZEW, Achim Wambach aus. Danach sanken die klimarelevanten Emissionen im selben Zeitraum übrigens um 24 Prozent.

Der regionale Wandel in Deutschland, wie ihn die ZEW-Forscher in Ansätzen beschreiben, kennt viele historische Akteure. Die Globalisierungsschübe um 1900, nach 1945 und seit der politischen Zeitenwende 1990 mit dem folgenden rasanten Aufstieg Chinas kannten hierzulande Gewinner und Verlierer. Neue Wirtschaftszweige wie der Massentourismus oder Videospiele auf dem Smartphone veränderten die Wirtschaftskarte, auch regional und lokal. Findige Unternehmen, Bildung und Ausbildung der Beschäftigten oder der Zufall spielten ebenfalls eine Rolle bei der regionalen Differenzierung.

Wirkmächtig hierzulande ist außerdem das spezielle politische Modell des Länderfinanzausgleichs. Es begünstigte beispielsweise den Aufstieg Bayerns vom «Bauernland» zur Wirtschaftskapitale mit BMW und Siemens, Allianz und Munich Re, dem weltgrößten Rückversicherer. Dass auch die Industriepolitik der Bundesländer eine nachhaltige Rolle spielt, veranschaulicht Wolfgang Lemb aus Gewerkschaftssicht in seinem gleichnamigen Buch.

Der Wandel betrifft auch Finanzdienstleister. Als der Deutsche Aktienindex (Dax) 1988 startete, waren fünf der 30 Werte Filialbanken. Heute ist nur die Deutsche Bank und das mit Ach und Krach unter 40 Dax-Werten übrig geblieben. Aus unterschiedlichen Gründen wurden die Landesbank Sachsen oder die WestLB in Düsseldorf sogar ganz von der Wirtschaftskarte gestrichen. Das Bau- und Wohnungsunternehmen Neue Heimat oder die ebenfalls gewerkschaftseigene Volksfürsorge sind ebenso Geschichte wie die 1883 von Emil Rathenau in Berlin gegründete Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft. Die AEG existiert heute nur noch als Markenname für Elektrokonsumartikel. Als die wirtschaftsnahe Frankfurter Allgemeine Zeitung 1961 ihren Aktienindex startete, waren je fünf Bergbau- und Textilunternehmen darin enthalten. Heute sind davon keine mehr übrig. Wie im hohen Norden, in Neumünster, erinnern lediglich Museen noch an industrielle Glanzzeiten. So lassen sich auch im südlichsten Zipfel der Republik Schätze der Industriegeschichte entdecken.

Nicht weniger eindrücklich als im hohen Norden bleibt Besuchern das Wiesentäler Textilmuseum in der badischen Stadt Zell in der Erinnerung haften. Auch dort schwirrten einst die Webstühle, rasselten und hämmerten die Räder und Walzen. Der Unterschied zu Neumünster: Im Wiesental erwuchs aus der untergegangenen Textilindustrie eine moderne Maschinenbau- und Zulieferindustrie. Firmen wie Mahle, Hella oder Endress+Hauser wandelten sich zu mittelständischen «Hidden Champions» mit nationaler oder sogar globaler Führungsrolle. Doch der Wandel geht weiter. Elektrifizierung der Automobilindustrie und Digitalisierung der Wertschöpfungsketten werden so manches erfolgreiche Unternehmen vor existenzielle Herausforderungen stellen.

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