- Politik
- Ukraine-Krieg
Nikitas Flucht
Nach 45 Tagen unter russischer Okkupation flieht Nikita Tschakalow aus der Kleinstadt Tokmak. In Kiew schildert er seine Erlebnisse
In Tokmak hat Putins Angriffskrieg am 26. Februar begonnen. Panzer rollten durch die südostukrainische Kleinstadt, Soldaten schossen um sich. Einen Tag später war der Ort von russischem Militär besetzt. Seither leben die Menschen dort in einem Informationsloch. Telefonnetze sind unterbrochen, Menschen haben Angst vor Verfolgung und Gewalt, all das sorgt dafür, dass kaum Nachrichten oder Bilder nach außen dringen. Nach der Befreiung okkupierter Orte wie Butscha oder jüngst Isjum werden dann oft Spuren von Kriegsverbrechen entdeckt. Bis dahin bleiben Augenzeugen die wichtigste Quelle. Menschen, die die Flucht geschafft haben. Menschen wie Nikita Tschakalow.
Nikita Tschakalow ist 26 Jahre alt und arbeitet als freiberuflicher Englisch-Lehrer. Ende Juli berichtet er in Kiew von seinen letzten Wochen in Tokmak. Angespannt sitzt er in einem Café auf der Terrasse. In der Hauptstadt ist es nur relativ gesehen sicher. Raketen können jeden Moment einschlagen. »Wenn die Sirene losgeht, gehen wir in die U-Bahn-Station, okay?« Bei jedem lauten Geräusch schaut er sich um.
Am 24. Februar überfiel die russische Armee sein Land. Nachbarn bepackten hektisch ihre Autos und fuhren fort. Zwei Tage später erreichten russische Truppen Tokmak mit seinen rund 30 000 Einwohnern, wo er mit Freundin und deren Mutter in einer Wohnung zusammenlebte. Ihre Großeltern bewohnen bis heute ein eigenes Haus in der Stadt.
Die ersten Explosionen erschütterten Tokmak um 10.15 Uhr. »Ich wollte gerade eine Unterrichtsstunde beginnen. Gleichzeitig gab es Luftalarm und ein lautes Krachen in unserer Nachbarschaft.« Die ersten Tage beschreibt er als beängstigend. »Wir schnappten unsere Katzen und blieben im Korridor und Badezimmer.« Sie hielten sich an die Zwei-Wände-Regel, die besagt: Wenn kein Bunker in der Nähe ist, soll man sich während des Luftalarms in Ecken der Wohnung oder des Hauses aufhalten, wo einen noch eine Innenwand − möglichst ohne Glastüren − von den Außenwänden trennt. Dann würden einen bei Raketen- oder Bombeneinschlägen die Druckwelle oder herumfliegende Splitter weniger verletzen.
»Draußen dröhnte Militärtechnik. Ich dachte erst, das wären unsere Truppen. Aber dann schaute ich aus dem Fenster und entdeckte das Z auf einem Panzer, das Zeichen für die Russen. Das war ein Schock − mir wurde ganz kalt. Zwei Stunden etwa fuhren die Armeefahrzeuge in unsere Stadt.« Es folgte ein Panzerkampf in einer Parallelstraße. In der Wohnung klang es, »als gäbe es schon kein Stadtzentrum von Tokmak mehr«.
Tschakalow berichtet, er haben einen Passanten beobachtet, der ortsunkundige ukrainische Soldaten zu russischen Panzern geschickt habe. »Sie wurden sofort umgebracht.« Er ist sich sicher, dass der Passant sie mit Absicht in den Tod schickte. Mit Kollaborateuren müsse sich die Ukraine nach dem Krieg beschäftigen, sagt er.
Die ersten Soldaten traf er selbst vor einem Supermarkt. »Sie kamen aus Russland, Burjatien, Tschetschenien. Sie sagten uns: ›Wir tun euch nichts, wir beschützen euch, wir sind nur hier, um die Ordnung zu erhalten.‹« Bis in den März hinein blieb es ruhig, »wenigstens gewaltfrei, erstmal«, sagt Tschakalow. Es gab keinen Strom, kein Telefonnetz. Nur Gas. Und Luftalarme. »Wir bekamen nichts mit, wussten nicht, was im Land passiert. Wir befürchteten, Kiew sei schon zerstört worden.«
Wenn die Sirenen heulten, ging das Paar in den Luftschutzraum eines nahen Kindergartens. Einen Monat lang verbrachten sie dort jede Nacht auf schmalen Kinderliegen. Von der Sperrstunde um 18 Uhr bis morgens 8 Uhr. »Dort war es eng, es wurde viel getrunken«, erinnert sich Tschakalow. »Mit den Kindern spielten wir Karten. Ein Mann brachte ein Radio mit. So hörten wir von der Bombardierung Charkiws.« Dort weinte der 26-Jährige zum ersten Mal seit der Besetzung.
Nach einer Woche fand die erste Pro-Ukraine-Demonstration in Tokmak statt. 2000 Leute, erzählten sich die Menschen vor Ort stolz, proklamierten »Tokmak ist Ukraine«. Tschakalow und seine Freundin verpassten die Premiere, am Folgetag waren sie dabei. »Da kamen noch ein paar hundert Leute, dann wurden es jeden Tag weniger«, sagt er. »Wir demonstrierten direkt vor der Polizeistation, auf dem Dach standen Scharfschützen. Aber die russischen Soldaten beobachteten uns nur, lächelten sogar.«
Mitte März aber wandelte sich die Besatzungsstrategie. Der Kreml-Traum von der schnellen Einnahme Kiews war gescheitert, die ukrainische Armee befreite langsam die Dörfer rund um die Hauptstadt. In Tokmak wurden nun ukrainische Kriegsveteranen und Aktivisten verfolgt: Wohnungen wurden aufgebrochen und nach ukrainischen Armee-Dokumenten oder Verbindungen zu NGOs durchsucht. Wer an den Ukraine-Demos teilgenommen hatte, galt als Aktivist. Sie alle waren nun in Gefahr. Ein älterer Mann, der mit Ukraine-Flagge die Proteste angeführt hatte, saß mehrere Monate dafür in Haft, kam erst vor Kurzem wieder frei.
Einmal nach der Sperrstunde wurde der Vater von Tschakalows Freundin, der bei den Wasserwerken arbeitet, von Russen aufgegriffen: »Er musste stundenlang knien und man hielt ihm eine Waffe an den Kopf«, erzählt Tschakalow. Warum sie nicht schossen, blieb für alle ein Rätsel.
Die Versorgungslage in Tokmak wurde immer schwieriger. Lebensmittel und Rentenzahlungen von ukrainischer Seite erreichten die Stadt nicht mehr. Die Straßen in Richtung Ukraine waren durch russische Checkpoints abgeriegelt, Lieferungen wurden nicht durchgelassen. »Immer mehr Leute registrierten sich auf den Listen der Besatzer, um russische Hilfsgüter zu bekommen«, erzählt Tschakalow enttäuscht: »Ich hätte das nie genommen, es könnte ja auch vergiftet sein.« Wer die russischen Produkte ablehnte, musste sich mit eigenen Vorräten und denen von Verwandten versorgen.
Bald erreichten die ersten Flüchtlingsgruppen aus dem umkämpften Mariupol Tokmak. »Sie kamen in Autos ohne Scheiben, mit leerem Blick«, erinnert sich Tschakalow. »Mehr als 200 Menschen wurden bei uns im Kindergarten und in Schulen untergebracht.«
Als Anfang April die ersten Bilder aus dem befreiten Kiewer Vorort Butscha veröffentlicht wurden, entschieden immer mehr Menschen in Tokmak: »Wir müssen hier weg!« Auch Nikita Tschakalow, seine Freundin und deren Mutter. Sie fanden einen Fahrer, der sie für 2000 Hrywnja, umgerechnet etwa 55 Euro, ins 100 Kilometer entfernte Saporischschja fahren würde. Dann packten sie: ihre zwei Katzen, drei Powerbanks, eine Stange Zigaretten, zwei Wasserflaschen, drei Dosen mit Haferbrei, einen Laptop, ein Tablet, Unterwäsche und Dokumente. Sie löschten alle Dateien und Kontakte und zerschnitten ukrainische Kreditkarten.
Start war am 5. April um 6 Uhr. Normalerweise fährt man die Strecke in zwei Stunden. Die Flucht durch sieben russische Militärkontrollen sollte 14 Stunden dauern. Die Anspannung war groß, bis heute ist unbekannt, was eigentlich mit denjenigen passiert, die diese »Filtrationen«, die Kontrollen an den Checkpoints oder an ganzen Kontroll-Lagern, wie es sie in der teilweise besetzten Region Donezk gibt, nicht passieren dürfen.
Die Posten kontrollierten seine Tattoos, suchten darin nach Raben und Schilden, weil sie das für Asow-Symbole hielten, fragten nach SIM-Karten der Marke KyivStar, durchforsteten sein Telefon auf Hinweise, ob er Geld an die ukrainische Armee gespendet hätte, nahmen ihm zwei seiner drei Powerbanks ab. »An einem Posten waren die Jungs aus Tschetschenien. Wenn sie dich nicht mögen, schicken sie das Auto zurück und behalten dich dort«, erinnert sich Tschakalow an ihre Drohungen. »Sie nahmen noch ein paar Packungen Zigaretten, überlegten lachend, wen von uns sie einbehalten sollten.« Dann ließ man die Familie fahren.
Einmal sei er von einem Posten nach Politik gefragt worden. Tschakalow sagte: »Ich will Frieden.« Die Antwort sei gewesen: Ja klar, alle wollen nur peace, da! Der Mann habe laut gelacht. Er machte daraus das Wort pisda. Ein vulgärer russischer Ausdruck für Muschi oder auch Prügel. »Fahrt, aber lass dich nicht zur Armee einziehen«, ließ der Soldat sie dann lachend passieren.
Der siebte Kontrollpunkt schickte sie auf eine neue Route. »Sie sagten, die andere Straße sei für uns der ›Weg des Lebens‹.« Die Posten hätten sogar ukrainisch gesprochen. Verschreckt bogen sie also ab. Zerstörte Häuser säumten den Weg. Kurz danach entdeckten sie auf dem Feld die ersten ukrainischen Soldaten: »Die Mutter meiner Freundin sprang aus dem Auto und umarmte die Militärs. «Sie waren freundlich, schickten uns aber ins Auto zurück, sagten, es würde gleich laut werden, aber wir seien jetzt sicher.» Tschakalow erinnert sich an zehn Minuten Artillerie-Krach, nach einer halben Stunde konnten sie weiterfahren. Die Soldaten winkten. «Wir fühlten uns befreit, in Sicherheit, trotz der Kämpfe in der Nähe.»
Die drei erreichten Saporischschja, zogen dort in die Wohnung von Tschakalows Familie. Bis heute kämpfen sie mit der Angst vor Militärs, vor Beschuss, vor erneuter Besatzung. Mittlerweile pendelt das junge Paar zwischen Saporischschja und Kiew, beide arbeiten wieder online. Mit einer Ausnahme: «Russen unterrichte ich nicht mehr», sagt der junge Lehrer. Auch die russische Sprache benutzt er nicht mehr. «Die Russen kamen, um die angeblichen ›Nazis‹ zu besiegen. Damit machen sie uns nur nationalistischer, als wir es je waren.»
Die Großeltern sind noch immer in Tokmak, selten kommt eine Telefonverbindung zustande. In der Stadt lebten jetzt viele neue Menschen aus Russland, erzählten sie. Wegen des Beschusses seien sie selbst meist im Keller. Für den 23. bis 27. September bereiten die Besatzer ein Referendum vor, mit dem Ziel, ein Teil Russlands zu werden.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.