Geschlechterforschung als Kollateralschaden

Die Professur für Geschlechtergeschichte an der Universität Jena soll zugunsten der Digital Humanities umgewidmet werden

In etwa so kann es sich anfühlen, an der Universität auf der Beforschung des Geschlechterverhältnisses zu bestehen. Sinnbild aus der Mensa der Karl-Marx-Universität Leipzig, Dezember 1963.
In etwa so kann es sich anfühlen, an der Universität auf der Beforschung des Geschlechterverhältnisses zu bestehen. Sinnbild aus der Mensa der Karl-Marx-Universität Leipzig, Dezember 1963.

Frau Mettele, der Anlass für unser Gespräch ist die geplante Umwidmung des Lehrstuhls für Geschlechtergeschichte an der Uni Jena, den Sie derzeit innehaben. Er soll verwandelt werden in einen Lehrstuhl für Digital Humanities. Faktisch würde das die Streichung des Fachs bedeuten, oder?

Interview

Gisela Mettele ist seit 2010 Professorin für Geschlechtergeschichte an der Universität Jena. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Frauen- und Geschlechterforschung sowie in der Religions- und Bürgertumsgeschichte. Sie ist Vorstandsmitglied des Arbeitskreises Historische Frauen- und Geschlechter­forschung e.V., der im Juni 2022 in einem Offenen Brief gegen die Streichung der Professur für Geschlechtergeschichte protestierte. Der Protestbrief ist zu finden auf der Webseite des Arbeitskreises unter www.akhfg.de.

Richtig.

Wie wird das begründet?

Das Problem ist, dass es eine wirkliche Begründung oder Argumentation bisher gar nicht gab. Viele meiner Mitarbeitenden waren das erste Mal bei einer Fakultätsratssitzung dabei – dem Ort, an dem diese Angelegenheit diskutiert wurde – und waren ebenso wie ich fassungslos, wie das abgelaufen ist. Der Ablauf der Sitzung und die Begründung für die Umwidmung ausgerechnet der Geschlechtergeschichte waren intransparent, vom Vorgehen her wie auch in wissenschaftlich-methodischer Hinsicht. Die Diskussion, die durch das Online-Format der Sitzung ohnehin unter erschwerten Bedingungen stattfand, beschränkte sich auf etwa zwei Stunden. Direkt in der Fakultätsratssitzung, in der der Vorschlag der Streichung der Geschlechtergeschichte erstmals öffentlich diskutiert wurde, wurde dann über die Umwidmung abgestimmt.

Zur Entscheidung über die Sache hatte der Dekan eine Strukturkommission eingesetzt. Wie ist diese vorgegangen?

Die Strukturkommission war eingesetzt worden, um Möglichkeiten zu finden, die bislang nur vorläufig eingerichtete Professur für Digital Humanities zu verstetigen. Das war das Anliegen, da ging es erstmal gar nicht um das Fach Geschlechtergeschichte. In der Sitzung schien es jedoch so, dass nichtöffentlich darüber bereits länger geredet worden war, auch hieß es, es sei seit drei Jahren klar gewesen, dass die Geschlechtergeschichte geschlossen wird. Ich finde es schwierig, wenn ein Papier, das eigentlich eine Diskussion über Strukturentscheidungen der Universität erst eröffnen sollte, gewissermaßen schon beschlossene Sache ist. An Gesprächen von ein paar Leuten im Hinterzimmer, die der Sitzung offenbar vorausgegangen sind, wurden jedenfalls der Mittelbau und die Fachschaft der Geschichtswissenschaft oder auch die Studierendenvertretung der Uni nicht beteiligt. Sie sind eiskalt erwischt worden und protestieren gegen die Streichung.
Die Strukturkommission hatte die Aufgabe, ein Diskussionspapier für den Fakultätsrat zu erstellen, auf dessen Basis diskutiert und entschieden werden kann, welche Professur zugunsten der Digital Humanities umgewidmet wird. Ich selbst habe dieses Papier erst einen Tag vor der Fakultätsratssitzung zu Gesicht bekommen, das war im Juni dieses Jahres. Erst einen Tag vor der Sitzung, in der über die Streichung abgestimmt wurde, wurde es zu öffentlichem Wissen, dass die Strukturkommission die Professur für Geschlechtergeschichte und die Professur für Mittellateinische Philologie als diejenigen ansieht, die für die Umwidmung beziehungsweise Streichung infrage kommen. Diese beiden Lehrstühle wurden damit faktisch gegeneinander ausgespielt. Das finde ich sehr ungünstig. Auf der anderen Seite ist es schon auch ein Ding, dass die Uni für ihre Zukunft Mittellatein wichtiger findet als Geschlechtergeschichte. Außerdem wurde noch eine dritte Lösung vorgeschlagen, die wurde »solidarische Lösung« genannt. Sie wurde aber in der Sitzung gleich vom Tisch gewischt und war auch schon in dem Papier nur so ein bisschen eine, ich weiß nicht…

…eine Fußnote.

Genau. Es entstand nicht der Eindruck, dass nach einer solidarischen Lösung ernsthaft geschaut wurde. Wenn man so eine Entscheidung jedenfalls mit wissenschaftlichen Standards betrachten würde, müsste man sagen, wir machen einen methodischen Vergleich, wir erheben, was an Abschlussarbeiten und Dissertationen betreut wird, wie viele Drittmittel eingeworben werden, was die Inhalte des Faches sind. Ich wurde ein paar Wochen vor der Fakultätsratssitzung zwar zu einem Gespräch mit der Strukturkommission geladen und habe in diesem Zusammenhang erst erfahren, dass die Streichung des Lehrstuhls zur Debatte steht, aber es gab da keine systematisch vergleichbaren Kriterien, nach denen gefragt wurde. Das Highlight, oder besser: Lowlight der Diskussion bestand übrigens in der Behauptung, die relevanten Erkenntnisse der Geschlechtergeschichte seien allesamt bereits in den 1980er Jahren geschrieben worden, von Wissenschaftlerinnen wie Heide Wunder, Gisela Bock und Karin Hausen. Sie waren die erste Generation, die überhaupt die Frauen- und Geschlechtergeschichte als akademisches Fach etabliert hat.

Und am liebsten auch die letzte…

Ja, genau. Diese Frauen haben mit der historischen Geschlechterforschung angefangen, und darauf aufbauend hat sich ein Fach entwickelt, das heute natürlich ganz woanders steht. Aber anstatt sich diese Leistungen und das Fach im Allgemeinen richtig anzugucken, behauptet die Strukturkommission, in der Geschlechtergeschichte sei bereits alles gesagt. Der Eindruck drängt sich auf, dass gar kein Wille bestand, sich überhaupt mit Geschlechtergeschichte und dem, was sie leistet, auseinanderzusetzen.

Womit beschäftigt sich denn das Fach Geschlechtergeschichte eigentlich genau und was sind Ansätze und Konzepte, die im Laufe der Zeit neu hinzugekommen sind?

Der Forschungsbereich Geschlechtergeschichte hält die Kategorie Geschlecht als zentrale Analysekategorie an den jeweiligen historischen Gegenstand heran. Dafür muss man als Historiker oder Historikerin übrigens gar nicht feministisch sein, sondern einfach nur das Anliegen haben, die Akteure und Akteurinnen der Geschichte – die wiederum nicht nur heteronormativ als Mann und Frau anzusehen sind – möglichst korrekt und genau zu bestimmen. Außerdem treibt die Geschlechtergeschichte die Reflexion darüber voran, was das Fach leisten kann. Als ich vor zwölf Jahren als Professorin angefangen habe, haben wir uns noch kaum über Intersexualität und Transidentitäten in der Geschichte auseinandergesetzt: Wie schaut man sich deren Vorkommen und den politischen Umgang damit in früheren historischen Epochen an, in der frühen Neuzeit zum Beispiel oder im 19. Jahrhundert. Wie lassen sich solche relevanten neuen Themen konzeptuell fassen, mit welchen Methoden, mit welchen Konzepten, mit welchen Kategorien. Neben dem Bewusstsein für Transidentitäten und der Erkenntnis, dass geschlechtliche Identitäten auch in der Geschichte nicht fix sind, sondern auf einem Spektrum liegen, ist in den vergangenen zehn Jahren noch der theoretische Ansatz der Intersektionalität als wichtiges Element hinzugekommen. Der analysiert das Zusammenwirken verschiedener Kategorien von Differenz, um gesellschaftliche Ordnungen und deren historischen Wandel differenziert beschreiben zu können. Als methodisch avanciertes Konzept ist dieser in der Geschlechterforschung seit den 1990er Jahren diskutierte und angewandte Ansatz heute auch in Teilen des Mainstreams der geschichtswissenschaftlichen Forschung angekommen. In ihrer Vorreiterinnenrolle liegt auch weiterhin ein großes Potential der Geschlechterforschung als eigenständige Disziplin.

Geschlechtergeschichte ist ja auch Patriarchatsgeschichte. Insofern würde eine Streichung der Professur auch die Annahme implizieren, dass es einer Kritik des Patriarchats heutzutage nicht mehr bedarf, oder?

Richtig.

Begründet wird das Ganze mit finanziellen Sachzwängen. Ist das Finanzierungsargument hier ein bloßer Kniff, um die unliebsame Geschlechtergeschichte loszuwerden? Die Anwerbung von Drittmitteln läuft in Ihrem Fach ja ganz gut, habe ich gelesen.

Ja, wir haben von meinem Lehrstuhl aus seit 2011 fast eine Million Euro eingeworben. Das ist für die Philosophische Fakultät nicht wenig. Die Hintergründe der Streichung sind wie gesagt wenig transparent, aber auf jeden Fall ist zu vermuten, dass die Umwidmung der Professur von denen begrüßt wird, denen die Geschlechtergeschichte an der Universität Jena von Anfang an ein Dorn im Auge war. Der wurde 2010 nämlich überhaupt nur eingerichtet, um in der aktuellen Exzellenzinitiative eine Chance zu haben, denn die Deutsche Forschungsgemeinschaft als Drittmittelgeberin hat damals schon großen Wert auf das Vorhandensein von Genderkompetenz gelegt, und die fehlte an der Uni Jena noch ziemlich weitgehend. Die Exzellenzinitiative für die Philosophische Fakultät ist dann trotzdem gescheitert und einige haben sich dann möglicherweise die Augen gerieben und sich gefragt, warum in aller Welt sie bloß einen Lehrstuhl für Geschlechtergeschichte eingerichtet haben. Das Fach war also schon von Anfang an eher ein ungeliebtes Kind an der Universität Jena – und ich selbst wurde in meiner Antrittsvorlesung dann noch öffentlich als »Kollateralschaden der Exzellenzinitiative« bezeichnet.

Wer hat Sie so bezeichnet?

Der damalige Dekan, in seiner Vorstellung meiner Person bei meiner Antrittsvorlesung. Er hat die Aussage in die rhetorische Formel eines vergifteten Lobs gefasst: Andere Personen, die er nicht namentlich vorgestellt hat, diese anderen also hätten mich als »Kollateralschaden der Exzellenzinitiative« bezeichnet, während er selbst mich stets als fleißige Arbeiterin in Kommissionen erlebt habe. Allein das ist ja eine ziemliche Frechheit. Etwas überspitzt gesagt, kennzeichnet das den Kontext, die Ebene der Akzeptanz, auf der die Geschlechtergeschichte in Jena in den letzten zwölf Jahren gearbeitet hat.

Ich würde behaupten, es gibt einen Zusammenhang zwischen der Tatsache, dass die Geschlechtergeschichte von vornherein als Feigenblatt eingerichtet wurde und der, dass sich die leitenden Herren bis heute nicht für den Inhalt des Faches interessieren. Es bestand ja offenbar nie eine Einsicht, dass es notwendig ist, Geschlechterforschung zu betreiben.

Naja, auch wenn sich das so generell vielleicht nicht sagen lässt, lässt sich doch nach wie vor beobachten, dass Geschlechterforschung immer dann gefragt ist, wenn man damit auch Gelder bekommen kann. Ich habe eigentlich auch kein prinzipielles Problem damit, wenn da am Anfang eine zweifelhafte Motivation bestand – manchmal setzt sich die Vernunft schlicht hinter dem Rücken der historischen Akteur*innen durch. Aber ich finde es problematisch, dass das Fach jetzt so ad acta gelegt und gesagt wird, na ja, das war damals nötig, aber heute brauchen wir das nicht mehr.

Aber genau da würde ich eben einen Zusammenhang sehen!

Ja, da könnten sie recht haben. Und jetzt liegt eben die Priorität auf den Digital Humanities. Es ist ganz deutlich, dass die Uni findet, da sei nun das Geld zu holen, und ich finde das auch nicht per se problematisch. Problematisch finde ich vielmehr, dass die Universität die Digital Humanities auf Kosten der Geschlechtergeschichte etabliert und nicht nach Möglichkeiten sucht, beides zu erhalten. Ich selbst beschäftige mich an meinem Lehrstuhl sehr stark mit den Digital Humanities aus einer kritischen Perspektive. Mir geht es dabei darum, eine Genderperspektive in diesen Ansatz zu integrieren, damit wir nicht immer wieder bei null anfangen und die Diskussion darüber führen müssen, dass Gender eine wichtige Kategorie ist. Geschlecht muss auch in neuen Forschungsbereichen von vorn herein mitgedacht werden, das ist meine Intention, mich intensiv mit den Möglichkeiten und Grenzen der Digital Humanities zu beschäftigen.

Ich bin selbst Literaturwissenschaftlerin und habe – allerdings ohne mich intensiv damit beschäftigt zu haben – eine ziemliche Skepsis gegenüber den Digital Humanities. Mir erscheint das als Teil einer Rechtsentwicklung innerhalb der Geisteswissenschaften, der zum Beispiel biologistische Maßstäbe an soziale Verhältnisse anlegt. Wie sehen Sie das?

Ich würde nicht per se sagen, die Digital Humanities seien nur dazu geeignet, eine alte, unkritische Geschichtswissenschaft unter neuem Deckmantel der naturwissenschaftlichen Objektivität zu fördern. Das wäre ein bisschen verkürzt. Aber es kann so sein und es ist oft so. Gerade aus geschlechterpolitischer Perspektive muss man genau schauen, dass da keine »Vernaturwissenschaftlichung« der Geisteswissenschaften stattfindet.
Schon in der Methode der Digital Humanities fließen viele Entscheidungen darüber ein, wer oder was sichtbar beziehungsweise nicht sichtbar gemacht wird. Gerade darauf schauen wir hier am Lehrstuhl. Im letzten Jahr haben wir eine große Konferenz mit dem Titel »Gender und Digital Humanities« veranstaltet, in der wir uns genau mit solchen Fragen auseinandergesetzt haben.

Zurück zum Thema: An wen kann man sich denn am besten richten mit einer Skandalisierung der Abschaffung der Geschlechtergeschichte?

Eigentlich wären der Dekan oder der Präsident der Universität Jena erst mal die konkreten Ansprechpartner, aber die verstecken sich letztlich hinter dem Argument des Finanziellen. Insofern ist mein Eindruck, dass es darum geht, eine größere Öffentlichkeit herzustellen. Hilfreich wäre auch, wenn ein gewisser Druck von der Landespolitik käme, um der Uni zu zeigen, dass die Geschlechtergeschichte nicht so still und heimlich abgeräumt werden kann, wie sie sich das vielleicht erhofft haben. Bei der Geschlechtergeschichte geht es nicht um ein paar politisierte Feministinnen, die bloß ein Forum haben wollen, um ihre Politik zu machen. Das Fach wird bei Studierenden stark nachgefragt und viele Leute haben Lust, darin eine Qualifikation zu erlangen und auch in dem Bereich zu arbeiten. Das hatte ich auch an die Kommission als Information weitergegeben, einschließlich konkreter Daten, das wurde in der Fakultätsratssitzung aber überhaupt nicht diskutiert.

Thüringen ist ja immerhin rot-grün regiert.

Richtig. Aber da wird sich auch nicht unbedingt jeder für Geschlechterforschung interessieren. Auch Appelle helfen oft nichts, aber wir müssen das trotzdem problematisieren und darauf bestehen, dass Geschlechterthemen politisch und gesellschaftlich relevant sind, dass wir darüber reden müssen. Da geht es nicht nur um den Lehrstuhl für Geschlechtergeschichte, sondern um eine breitere gesellschaftliche Perspektive. Zum Beispiel sollte man gerade in Thüringen der AfD nicht in die Hände spielen, die hier eh schon sehr stark ist und die Streichung von Genderprofessuren in ihrem Parteiprogramm hat. Ich erinnere mich auch, dass die AfD schon 2015 und 2017 im Thüringer Landtag kleine Anfragen zum Thema Geschlecht gestellt hat: einmal, wie viele LGBTQI-Menschen es in Sachsen, in Thüringen und so weiter gibt, zum anderen, in welchem Ausmaß und von wem Geschlechterforschung an den Universitäten in Thüringen gelehrt wird. Vor diesem Hintergrund spielt die Universität mit der Abschaffung der Geschlechtergeschichte der AfD in die Hände. Zwar sind Antifeminismus, Rassismus und Rechtsextremismus unterschiedliche Bereiche, aber sie gehen ja in den rechten Argumentationen letztlich immer eine Verbindung ein. Deshalb braucht es auch an den Universitäten Strukturen, die den Positionen, die im politischen Raum von AfD und anderen Rechtsextremen formuliert werden, in irgendeiner Weise etwas entgegensetzen. Nicht, dass ich wirklich denke, dass die AfD durch Argumente zu überzeugen wäre. Aber man sollte denen halt nicht mit vorauseilendem Gehorsam begegnen, indem man die kritische Wissenschaft abschafft.

Klar, eigentlich sollten Studierende herangeführt werden an Wissen, das einen kritischen Blick auf Gesellschaft ermöglicht. Wir müssen uns ja zum Beispiel mit der Frage beschäftigen, wie Nazis eigentlich entstehen, jetzt mal ganz platt gesagt. Das hat natürlich unter anderem – neben vielen anderen Faktoren – auch damit zu tun, was für Inhalten die Menschen in der Schule und anderen Lehrinstitutionen ausgesetzt sind.

Ganz genau. Viele von denen, die bei mir studieren und bei mir Abschlussprüfungen machen, gehen ja ins Lehramt. Die sind ja auch gesellschaftspolitische Multiplikator*innen und deshalb ist es wichtig, dass sie an der Uni einen Raum dafür haben, ein kritisches Bewusstsein auszubilden.

Was charakterisiert denn kritische Wissenschaft in ihren Augen?

Na ja, ich denke, dass Wissenschaft eigentlich immer kritisch sein muss. Dazu gehört, dass sie sich auch als politisch versteht. Genau das wird der Geschlechtergeschichte häufig vorgeworfen, aber ich habe das von vornherein offensiv vertreten. Ich selbst habe in Frankfurt am Main bei Alfred Schmidt studiert, und da wurde kritische Wissenschaft von antiquarischer Wissenschaft abgegrenzt, die sich nicht an gesellschaftlichen Fragen orientiert. Ich finde, dass Wissenschaft sich sehr wohl an diesen Fragen zu orientieren hat, dass sie in irgendeiner Weise einen kritischen Blick auf und ein kritisches Verständnis von Gesellschaft ermöglichen muss. Ich meine, es ist doch heute notwendiger denn je, dass man den aktuellen politischen Diskursen etwas entgegenhält, diesen Vereindeutigungen und dieser Sehnsucht danach, dass alles einfach und auf einen Nenner zu bringen ist. Hiergegen müssen wir die Uneindeutigkeit, die Komplexität der Geschichte herausstellen. Dabei geht es zum Beispiel um Gerechtigkeit, um Geschlechtergerechtigkeit, aber auch um Fragen sozialer Marginalisierung. Diese Dinge müssen mit einem historischen Blick angegangen werden, mit der Frage danach, wie das alles entstanden ist. Und wie lassen sich etwa andere Gesellschaften denken, die anders strukturiert sind? Auch das hat eine kritische Geschichtswissenschaft zu leisten. Wir müssen uns an Fragen von gesellschaftlicher Relevanz orientieren und versuchen, konventionelle Geschichtsbilder aufzubrechen. Zum Beispiel angesichts der Berichterstattung zum Tod der Königin von Großbritannien: Da muss man doch auch mal sagen, nee Leute, womit lasst ihr euch da berieseln? Das soll jetzt »die« Geschichte sein?

Geschichtsrevisionismus ist das zu weiten Teilen, würde ich sagen. Die Kolonialgeschichte Englands wird von vielen Mainstream-Medien derzeit total heruntergespielt, die fallen teilweise hinter eine Kritik am Kolonialismus zurück, die bereits öffentlich etabliert war.

Genau. Aber gerade solche Sachen hat sich die Wissenschaft anzuschauen, hat dazu kritisches Wissen zu erarbeiten und bereitzustellen. Es musste ja überhaupt erst entdeckt werden, dass es eben noch ganz andere Geschichten zu erzählen gibt als die von Königen und Königinnen und dass die mindestens so spannend oder eigentlich spannender sind. Gerade in dieser Hinsicht kamen, und kommen nach wie vor, viele Impulse aus der Frauen- und Geschlechtergeschichte: Indem wir eben nach Akteur*innen fragen, die ansonsten in der Gegenwart und in der Geschichte unsichtbar bleiben.

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