Arm zu sein ist teuer

Sechs Menschen schildern, wie sie auf den extremen Preisanstieg reagieren

  • Nora Noll, Hendrik Lasch, Martin Höfig, Ines Wallrodt, Eva Roth, Stephan Kaufmann
  • Lesedauer: 19 Min.
Was bedeutet die Inflation konkret für Menschen? Und was tun angesichts des Preisanstiegs? Erik Schober, Şilan Sirin und Julia Bühler haben ihre Situation geschildert.
Was bedeutet die Inflation konkret für Menschen? Und was tun angesichts des Preisanstiegs? Erik Schober, Şilan Sirin und Julia Bühler haben ihre Situation geschildert.

Die hohe Inflationsrate trifft auch die Millionäre in Deutschland: Sie vermehren sich immer schneller. 2,7 Millionen von ihnen zählt der Global Wealth Report der Schweizer Bank Credit Suisse. In den nächsten fünf Jahren, so die Prognose, wird ihre Zahl um ein Viertel auf 3,4 Millionen anwachsen. »Dieser schnelle Anstieg resultiert zum Teil aus dem Fakt, dass die höhere Inflation es leichter macht, die Grenze von einer Million Dollar zu passieren«, erklärt die Bank.

Die sehr Wohlhabenden werden sich in Zukunft zwar weniger von ihrer Million kaufen können. Härter trifft die aktuelle Teuerung aber Menschen mit mittlerem und erst recht mit geringem Einkommen. Wer wenig Geld hat, gibt größere Anteile seines Budgets für die Grundbedürfnisse aus – Wohnen, Essen, Heizen, eben für jene Güter, die derzeit besonders schnell teurer werden. Nach einer ersten Schätzung des Statistischen Bundesamts war Energie in diesem September fast 44 Prozent teurer als ein Jahr zuvor und Nahrungsmittel 18,7 Prozent. Insgesamt stiegen die Verbraucherpreise voraussichtlich um zehn Prozent, das ist der stärkste Anstieg seit 70 Jahren. 

Die Ärmeren werden nicht nur besonders schnell ärmer. Sie haben auch »grundsätzlich ein besonderes Problem mit starker Teuerung«, so das gewerkschaftsnahe Wirtschaftsforschungsinstitut IMK. Denn die Alltagsgüter, die sie vor allem kaufen, seien kaum zu ersetzen. Zudem besitzen viele Haushalte kaum Spielräume, ihr Konsumniveau durch Rückgriff auf Erspartes aufrecht zu erhalten. Kurz: Die Teuerung trifft die Armen besonders hart, weil sie arm sind – ist doch Armut der Zustand, in dem ohnehin fast alles zu teuer ist. »It’s expensive to be poor« – dieses Plakat hängt derzeit an vielen Hauswänden im Berliner Ortsteil Kreuzberg. 

Mit wenig Geld zurechtkommen, das kennen viele schon lange. Niedriglöhne und Armut gibt es schließlich schon lange. Die Inflation verschärft nun die Lage. So wird Heizen zunehmend zum Problem. Laut IMK-Umfrage fühlen sich rund 40 bis 60 Prozent der Menschen von höheren Heizkosten belastet.

Die Unsicherheit, wie es weiter geht, empfinden viele als Belastung. Sicherheit ist für Menschen besonders wichtig für ihre Lebensqualität, das zeigte schon vor Jahren eine große Umfrage. Mehr Sicherheit ist machbar, etwa mit mehr festen Jobs, ordentlichen Löhnen und anständigen Sozialleistungen. Dies ließe sich bewerkstelligen mit einer anderen Verteilung des Wohlstands.

Derzeit ist die Ungleichheit bei den Einkommen und Vermögen sehr groß. Diese Woche wurde beispielsweise eine Analyse veröffentlicht, nach der Vorstandsmitglieder von Dax-Konzernen 2021 im Schnitt 3,9 Millionen Euro erhielten – 24 Prozent mehr als im Vorjahr. Den reichsten zehn Prozent der deutschen Haushalte gehörten zuletzt zwei Drittel des Vermögens. Das wirft die Frage auf, wie lange man sich den Reichtum der Reichen noch leisten will.

Und was bedeutet es konkret für Menschen, die nicht reich sind, wenn die Preise für Essen und Heizung derart nach oben schießen, wenn es noch schwieriger wird, Grundbedürfnisse zu finanzieren? Gehen sie deswegen auf die Straße? Sechs Menschen haben uns ihre Erfahrungen geschildert.

»Das ist nicht mehr als der Dreck unter dem Fingernagel«

Annemarie Müller (32), alleinerziehende Mutter, zwei Söhne, monatliches Budget: gut 1200 Euro.

Kürzlich war Schulanfang. Auch Annemarie Müllers zweiter Sohn kam in die Schule. Für die 32-jährige Leipzigerin war das eigentlich ein freudiger Anlass: »Die Kinder sind schließlich mein Ein und Alles.« Andererseits sprengen die Ausgaben für die Schulausstattung und eine kleine Feier ihr knapp bemessenes Budget. Müller bezieht Arbeitslosengeld II. Für Schulbedarf stehen ihrem Sohn exakt 104 Euro zu. »Das reicht vorn und hinten nicht«, sagt sie. Zudem zahle das Jobcenter derlei zusätzliche Leistungen in der Regel erst, wenn sie hartnäckig drängt oder gar vor Gericht klagt. »Ohne Hilfe von Freunden«, sagt sie, »wäre das nicht gegangen.«

Müller ist gelernte Kauffrau für Bürokommunikation und arbeitete einst in einem Callcenter, »in der Eskalations-Line«, wie sie sagt: dort, wo »respektlosen Menschen« Frust ablassen. Sie schaffte es, im Umgang mit ihnen die Ruhe zu bewahren. Als sie Mutter wurde, war Schluss damit: Die Kinder und Schichten rund um die Uhr waren nicht zu vereinbaren. Eine andere Arbeit fand sie nicht, auch, weil eine Gehbehinderung die Möglichkeiten stark einschränkt: »Ich kann ja nicht mal allein in den Bus steigen«, sagt sie. Seit acht Jahren ist sie auf Sozialleistungen angewiesen.

Die derzeitigen Preissteigerungen bereiten ihr große Sorgen. Familie Müller lebt vom Regelsatz und dem Unterhaltsvorschuss für die beiden Söhne, zusammen gut 1200 Euro. 570 Euro gehen allein für die Miete ab. Heizkosten sind darin eigentlich enthalten. Dennoch soll sie für den vorigen Winter 250 Euro nachzahlen. Ihre Wohnung liegt im Parterre. Vorteil: Sie ist gut zugänglich. Allerdings ist das Haus ein unsanierter Plattenbau mit Fernheizung; die Fenster schließen nicht gut. »Wenn ich die Heizung voll aufdrehe, kommen wir auf höchstens 20 Grad«, sagt sie. Dabei sei ausgerechnet das Kinderzimmer der kälteste Raum. Darauf, wie sich galoppierende Preise für Gas auf die Heizkosten auswirken und wie die Stromrechnung aussehen wird, sei sie »sehr gespannt«.

Schon jetzt strapazieren steigende Preise ihr Budget bis an die Schmerzgrenze. Lebensmittel sind spürbar teurer geworden: »Das tut jedes Mal weh.« Manche Artikel kauft Müller nicht mehr; Käse etwa gibt es nur noch im Stück statt in Scheiben: »Da bekommt man mehr raus.« Andererseits sei sie nicht gewillt, Abstriche zu Lasten ihrer Kinder zu machen. Müller nimmt beim Essenskauf oft Ratenpläne eines Zahlungsdienstleisters in Anspruch, um bis zur nächsten Überweisung vom Amt hinzukommen. Jede ungeplante Ausgabe schmerzt. Zum Geburtstag hat sie ihre Söhne kürzlich auf einen Kindereisbecher eingeladen: »Der kostete mal fünf Euro, jetzt sind es acht. Das reißt sofort ein Loch ins Portemonnaie.« Dass Weihnachtsmärkte wegen Corona zuletzt ausfielen, tat ihr für die schöne Stimmung leid; in finanzieller Hinsicht, sagt sie, »war ich froh darüber«.

Von den Entlastungspaketen der Bundesregierung merken Annemarie Müller und ihre Söhne nichts. Die Erhöhung des Kindergelds um 18 Euro wird ihr auf den Regelsatz angerechnet. Wenn dieser demnächst auf rund 500 Euro angehoben wird, gleicht das nach Berechnungen von Sozialverbänden gerade einmal die Inflationsrate aus: »Das ist nicht mehr als der Dreck unter dem Fingernagel«, sagt Müller. Um sie wirklich zu entlasten, müsste er deutlich stärker erhöht oder die Anrechnung anderer Leistungen beendet werden. So, wie es jetzt sei, »kommt bei uns nichts an«.

Vielerorts regt sich Unmut über die Verschärfung der sozialen Lage; in Leipzig fand kürzlich eine erste Protestkundgebung statt. »Ich würde hingehen, wenn ich könnte«, sagt Müller und betont, sie hielte »noch viel mehr für notwendig«. Sie wünsche sich, dass auch Minister und Abgeordnete eine Zeitlang vom Regelsatz leben müssten: »Dann würden sie sehen, wie es ist, wenn man sich von Geldeingang zu Geldeingang hangelt« – und es für steigende Preise keinerlei Puffer gibt.

»Ich will ihr nicht das Gefühl geben, dass wir nicht mehr heizen dürfen«

Daniel (43), Beschäftigter in einer digitalen Druckerei, eine Tochter, monatliches Nettoeinkommen inklusive Kindergeld: rund 2000 Euro.

Noch stehen sie nur dekorativ im Wohnzimmer auf dem Regal. Zwei Tontöpfe übereinander, umgedreht auf einem Ständer, drei Teelichter darunter: selbst gebaute Miniöfchen, erklärt Daniel, »haben an kühlen Abenden schon muckelige Wärme abgestrahlt«. Der Vater einer Tochter, die abwechselnd bei ihm und ihrer Mutter wohnt, hat vorgesorgt: im Großen wir im Kleinen. Der 43-Jährige arbeitet in einer digitalen Druckerei im Kundendienst. Fast die Hälfte seines verfügbaren Einkommens, 900 Euro, gehen für Miete, Gas und Strom drauf: Da ist nicht viel Puffer für Überraschungen.

Als sein Gasanbieter Eon seine Kunden über die steigenden Strompreise informierte, erhöhte er seine Abschläge eigenständig von 60 auf 120 Euro. Auch beim Strom zahlt er freiwillig mehr. »Wenn ich am Ende eine Nachzahlung von 4000 Euro kriege, bin ich im Arsch.« Dann lieber jeden Monat eine kleinere Summe mehr einzahlen, dachte er sich. »Was mich jetzt ziemlich blöd dastehen lässt, weil ja beschlossen wurde, dass man im Notfall mit seiner Nachzahlung zum Amt gehen kann.«

Daniel verfolgt die Nachrichten. Trotzdem hat er das Gefühl, nicht wirklich zu wissen, was die Regierung mit ihren Entlastungspaketen genau beschlossen hat. Unterschreiben musste er kürzlich für die Einmalzahlung von 300 Euro, die sein Arbeitgeber auszahlen soll. »Ich bin gerettet!« Er sagt es leicht sarkastisch, aber ohne Wut. »Die Situation ist für Politiker auch schwierig.«

Dennoch: Vieles findet er nicht ausgewogen an den bislang bekannten Maßnahmen. Aber deswegen auf die Straße gehen? Früher war er oft auf Demos. Doch bewirkt habe das nichts.

Er versucht sich daher selbst zu helfen, baut hohen Nachzahlungen vor und spart beim Verbrauch: In Bad und Küche hat er umgerüstet: Warmwasser am Waschbecken liefert jetzt nicht die Gastherme, sondern ein kleiner Elektroboiler. Die Heizung ist dort eh fast immer aus. Er hat Decken gekauft, Lammfell, als Unterlage im Bett. Und tags will er sich eben noch einen Pullover überziehen. »Ich komme damit klar, wenn es ein bisschen kälter in der Bude ist.« Nur seiner Tochter will er das nicht zumuten: »Ich will ihr nicht das Gefühl geben, dass wir extrem in Armut leben und nicht mehr heizen dürfen.« Die Zehnjährige macht es ihm leicht, denn sie ist ohnehin keine, die viele materiellen Wünsche hat. »Sie sagt immer: Ich bin froh, dass du da bist und dass es dir gut geht. Ich hab so nen Glück.«

Daniel lebt schon immer sparsam. Er hat kein Auto, kauft Klamotten nur gebraucht. Und achtet bei Lebensmitteln auf Eigenmarken und Angebote. »Ich brauch auch nicht ständig ein neues Telefon. Das hat doch nichts mit gutem Leben zu tun.« Gutes Leben, dazu gehört für ihn Familie, Freunde, in der Natur sein. Dafür hat er sich vor zwei Monaten dann doch einmal etwas größeres geleistet: einen Kleingarten bei Berlin. Den Abstand muss er abstottern. »Und wer weiß«, sagt Daniel. »Am Ende passiert gar nichts.« Dann kommen die Tontöpfe halt in den Garten.

Gut ein Viertel der rund 8,4 Millionen Haushalte, die in Deutschlands Großstädten zur Miete wohnen, müssen mindestens 40 Prozent ihres Nettoeinkommens für Warmmiete und Nebenkosten aufwenden, knapp 12 Prozent oder fast eine Million Haushalte gar mehr als die Hälfte. Das haben Wissenschaftler der Berliner Humboldt Universität im vergangenen Jahr für die Böckler-Stiftung errechnet. Allgemein gilt eine Mietbelastung oberhalb von 30 Prozent des Einkommens insbesondere bei Haushalten mit niedrigerem Einkommen als problematisch, weil dann nur noch relativ wenig Geld zum Leben bleibt.

"Ich bin eine kaputte Waschmaschine von Schulden entfernt«

Şilan Sirin, Studentin, monatliches Nettoeinkommen 850 bis 900 Euro.

Es riecht nach alten Büchern und Hagebuttentee. Mit Tasse in der Hand und Schal um den Hals sitzt Şilan Sirin in der antiquarischen Abteilung des kleinen Buchladens, als würde sie schon für den kommenden Winter üben. Die 26-Jährige arbeitet als studentische Hilfskraft 20 Stunden pro Woche in der Buchhandlung am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Zwischen Einführungen in den Marxismus und sozialistischen Kampfschriften lässt es sich gut über soziale Ungerechtigkeit reden.

Sirin studiert im Bachelor Rehabilitationspädagogik an der Humboldt Universität. Die ersten drei Semester verfolgte sie bei ihren Eltern in Hamburg zuhause am Computer, im Frühjahr 2022 zog sie dann nach Berlin in eine eigene Wohnung. Seitdem ist das Geld knapp. Sirin bekommt kein Bafög, weil sie ihr erstes Informatik-Studium abgebrochen hat, ihre Familie kann sie nicht finanziell unterstützen. Sie lebt ausschließlich von ihrem Einkommen aus dem Nebenjob, zwischen 850 und 900 Euro netto verdient sie damit im Monat.

Ihre Ersparnisse hat sie für die Renovierung ihrer Wohnung ausgegeben, »die war wirklich in einem schrecklichen Zustand, das Klo hatte nicht einmal einen Sitz.« Mit einer Miete von 320 Euro plus Nebenkosten, Krankenversicherung, Fixkosten und dem Semesterbeitrag von über 300 Euro bleiben Sirin zwischen 220 und 320 Euro für Essen, Freizeit, schlicht das Leben. »Das reicht mir«, sagt sie, »aber ich bin eine kaputte Waschmaschine von Schulden entfernt.«

Heizen will sie in diesem Winter vorsichtshalber gar nicht. Und beim Einkaufen achte sie sowieso auf die Preise, »die waren ja schon in der Pandemie richtig hoch.« Kino, Theater, Konzerte? Sie gehe nur zu kostenlosen Veranstaltungen, erzählt Sirin, Straßenfeste zum Beispiel. Viel Zeit für Freizeit bleibt ihr sowieso nicht. Neben dem 20-Stunden-Job in der Buchhandlung besucht sie ab Semesterbeginn Mitte Oktober wieder etwa 20 Stunden die Woche Pflichtveranstaltungen an der Uni. »Die restliche Zeit verbringt man dann mit Lernen«, erzählt sie und lächelt schief. Ein ausgelassenes Studi-Leben hört sich anders an.

Aber Sirin stören weniger die Einschränkungen im Alltag, als die finanzielle Unsicherheit, die über allem schwebt. Andere Studierende würden mit genauso wenig Geld leben. »Die sind dann sparsam, so à la Habeck. Sie trinken billiges Bier und in zwei Jahren gibt es wieder Schampus.« Zu wissen, dass sie im Zweifelsfall finanziell nicht auf ihre Familie zählen könnte, das sei eine große mentale Belastung.

2,95 Millionen Studierende waren im Herbst vergangenen Jahres an deutschen Universitäten und Hochschulen eingeschrieben. Laut Statistischem Bundesamt bezogen weniger als eine halbe Million Studierende Bafög, etwa ein Sechstel der gesamten Studierendenschaft. Ein Drittel lebte zu dem Zeitpunkt überwiegend von eigener Erwerbstätigkeit, gut die Hälfte vor allem von der finanziellen Unterstützung der Familie. Wer die staatliche Förderung erhält, gehört also zu der Minderheit.

Sirin würde sich über Bafög freuen – und ärgert sich, dass die Regeln bisher so viele Menschen ausschließen. »Das ist nicht darauf ausgelegt, dass du mit Ende 20 und ohne die Unterstützung deiner Eltern studieren kannst.« Die fehlende Förderung steht auch im krassen Widerspruch zu ihrem vorgeschriebenen Curriculum. Sirin muss etwa ein Pflichtpraktikum absolvieren, doch in der sozialen Arbeit gibt es so gut wie keine bezahlten Stellen.

Vor ein paar Monaten ist Sirin der Linkspartei beigetreten. Seitdem war sie schon auf mehreren Sozialprotesten, auf der Auftaktkundgebung der Dienstagsproteste in Frankfurt (Oder) zum Beispiel oder bei der Veranstaltung vor der Grünen-Parteizentrale. So wichtig es ihr ist, für eine Umverteilung von Reichtum auf die Straße zu gehen, vermisst sie auf den Demonstrationen die breite Masse. »Bisher waren es oft dieselben parteinahen Gesichter.« Sie hofft, dass sich armutsbetroffene Menschen trauen, für mehr Gerechtigkeit laut zu werden. „Man muss nicht erst kurz vor dem Verhungern oder Erfrieren sein, um dagegen auf die Straße zu gehen.«

»Wir müssen noch mehr Umsatz machen«

Claudia Peters* (60), Bäckereifachverkäuferin, monatliches Nettogehalt: rund 1400 Euro.

Demonstrationen wegen des Preisanstiegs findet Claudia Peters wichtig. Viele Alleinerziehende oder auch Rentner hätten Zukunftsängste und brauchten Unterstützung. »Ich würde auch auf die Straße gehen, wenn ich es zeitlich schaffen würde. Aber nach der Arbeit bin ich zu kaputt«, sagt sie.

Peters arbeitet in einer Bäckereifiliale eines größeren Unternehmens. Die erste Schicht geht von 5 bis 13 Uhr, »meist ohne Pause«. Es fehlt Personal, manchmal ist sie allein und muss neben dem Verkauf Snacks und belegte Brötchen richten, was eigentlich nicht geht, weil morgens der Andrang groß ist. »Die Dienstpläne machen die Leute oft zu Hause, quasi ehrenamtlich«, sagt die Betriebsrätin.

Die 60-Jährige ist geschieden und wohnt zusammen mit ihrer Tochter, dem Schwiegersohn und ihrem Enkelkind in einer Wohnung. Insgesamt hat die Familie ein monatliches Nettoeinkommen von rund 4100 Euro plus Kindergeld. »Das Haus ist gut isoliert, über und unter uns sind Wohnungen, deshalb haben wir kaum Heizkosten.« Die Abschläge für Strom und Fernwärme sind noch nicht erhöht worden. Peters spürt die Inflation beim wöchentlichen Großeinkauf und achtet jetzt mehr auf die Preise, was Wurst und Käse kosten. In finanziellen Schwierigkeiten sei sie noch nicht, sie kommt mit den 1400 Euro im Monat zurecht, die sie netto für eine 30-Stunden-Stelle plus Überstunden erhält. 

»Aber die Ängste sind da. Diese Unsicherheit, man weiß nicht, was kommt.« Das merkt sie auch bei den Kundinnen und Kunden. Eine ältere Frau habe kürzlich erzählt, dass sie und ihr Mann eine kleine Rente erhalten und Angst haben, was die Zukunft bringt. Manche seien »entsetzt« über die neuen Preise für Backwaren, wenn sie für vier Stück Kuchen acht Euro zahlen müssen.

Aus dem Entlastungspaket bekommt Peters die Energiepauschale von 300 Euro. Positiv findet sie, dass im Dezember auch Rentner eine solche Einmalzahlung erhalten sollen, wenigstens das. Deutlich mehr Geld für arbeitslose Hartz-IV-Empfänger sieht sie hingegen kritisch. Sie fürchtet, dass einige dann keinen Grund mehr sehen, arbeiten zu gehen. »Wir kriegen jetzt schon kein Personal. Einige Beschäftigte haben gekündigt und arbeiten jetzt im Supermarkt oder im Büro.« Daraus kann man auch schließen, dass die Gehälter in Bäckereien steigen sollten, oder? Der neue Tarifabschluss »ist eigentlich sehr gut«, entgegnet Peters. Gleichzeitig erhöhe das Unternehmen jetzt den Druck: »Wir müssen noch mehr Umsatz machen.«

*Name geändert

»Für Urlaub habe ich momentan sowieso keine Zeit«

Julia Bühler (46), freiberufliche Künstlerin, lebt von 830 Euro Grundsicherung im Monat.

Julia Bühler lacht viel. Dass sie zurzeit nur 830 Euro im Monat zur Verfügung hat, scheint ihr auf den ersten Blick nicht viel auszumachen. »Für Urlaub oder so etwas habe ich momentan sowieso keine Zeit, weil ich gerade sehr damit beschäftigt bin, ein Theatertreffen vorzubereiten«, erzählt sie. Das nennt man wohl Pragmatismus. Hinter dem bei der 46-Jährigen auch eine gewisse idealistische Weltanschauung steckt, die spürbar wird, wenn sie beispielsweise sagt: »Wenn man offen ist für die Situation und keine Angst vor der Not oder der Krise hat, dann kommen die Dinge auf einen zu. Ich spüre durchaus Solidarität bei den Menschen.«

Bühler hat mehrere Jahre in verschiedenen Wohnprojekten gelebt, wohnt seit Kurzem aber wieder in einer eigenen kleinen Wohnung in Berlin-Grünau. 387 Euro Miete zahlt sie, dazu 60 Euro für Strom und etwa 15 Euro monatlich für ihr Handy. Von den 830 Euro Grundsicherung, die ihr monatlich zur Verfügung stehen, zahlt sie also über 50 Prozent fürs Wohnen. Damit gehört sie zu den etwa 40 Prozent der Einkommensarmen in Deutschland, die mehr als 40 Prozent ihres monatlich zur Verfügung stehenden Geldes allein dafür aufbringen müssen.

»Für Lebensmittel und Hygieneartikel veranschlage ich etwa 200 Euro pro Monat«, sagt Bühler. Das gehe nur, weil sie Foodsharing nutze. Dafür geht sie zweimal in der Woche zu Abgabestellen, die von einem Netzwerk von Menschen organisiert werden, die dort Lebensmittel verteilen, die sonst von Supermärkten aussortiert oder weggeworfen würden. »Ich finde es gut, wenn Lebensmittel nicht weggeschmissen werden«, sagt Bühler. »Letztens habe ich auch eine volle Kiste Obst zum Verschenken in einer Kleingartenanlage entdeckt, als ich dort mit dem Fahrrad durchgefahren bin. Da habe ich mich dann erst mal mit Birnen eingedeckt«, erzählt sie fröhlich.

Andere Menschen mit wenig Geld gehen zu Tafeln, die Lebensmittel kostenlos, für einen symbolischen Betrag von beispielsweise zwei Euro oder zu stark reduzierten Preisen verteilen. Ihre Zahl sei seit Jahresbeginn aufgrund von Inflation, Pandemie und Kriegsfolgen um etwa die Hälfte gestiegen, so die Tafel Deutschland. Mittlerweile suchten mehr als zwei Millionen Menschen regelmäßig Unterstützung – so viele wie nie zuvor.

Zu den neuen »Kundinnen und Kunden« zählen vor allem Geflüchtete aus der Ukraine, aber auch viele Erwerbslose mit Bezug von Arbeitslosengeld I oder II, Erwerbstätige mit geringem Einkommen sowie Rentnerinnen und Rentner. »Die Tafeln sind am Limit und berichten uns, dass viele Menschen zu ihnen kommen, die bisher gerade so über die Runden gekommen sind und zum ersten Mal Hilfe in Anspruch nehmen müssen. Sie erzählen aber auch von ehemaligen Kundinnen und Kunden, deren Situation sich wieder verschlechtert hat und die nun erneut Unterstützung brauchen«, sagt Jochen Brühl, Vorsitzender von Tafel Deutschland. Und: »Wir sehen deutlich, dass es den Menschen jetzt am Nötigsten fehlt und rufen weiterhin zu Spenden für die Tafeln auf.«

Julia Bühler sagt, sie möchte alternativ leben und sei auch mit wenig Geld zufrieden. Auf die bevorstehenden Heizkosten ihrer mit Gas beheizten Wohnung angesprochen, schiebt sie dann noch hinterher: »Aber was die Zukunft bringt, weiß ich nicht.«

»Ich habe ein gutes Einkommen«

Erik Schober (50), Beschäftigter in der Stahlindustrie, verheiratet, zwei Kinder, monatliches Nettoeinkommen der Familie inklusive Kindergeld: rund 5000 bis 5400 Euro.

Erik Schober hat lange im Schichtdienst gearbeitet, zuerst in der Produktion beim Stahlkonzern Salzgitter, dann im Werkschutz, Früh-, Spät-, Nachschicht – 23 Jahre lang. Parallel dazu hat er sich ehrenamtlich für die Belange der Belegschaft eingesetzt: Als gewerkschaftlicher Vertrauensmann, der von IG-Metall-Mitgliedern gewählt wird. Seit drei Jahren ist er in der Leitung des Vertrauensköpers und für die Arbeit freigestellt. Rund 5500 Euro verdient er brutto im Monat. »Ich habe ein gutes Einkommen«, sagt er.

Gerade in der Großindustrie sind die Löhne höher als anderswo, auch, weil die IG Metall dort stark ist. Mindestens 80 Prozent der Stahl-Beschäftigen seien gewerkschaftlich organisiert, sagt Schober. In der jüngsten Tarifrunde im Frühjahr haben Zehntausende für mehr Geld gestreikt, durchgesetzt haben die Gewerkschafter dann 6,5 Prozent höhere Löhne für 18 Monate und eine Einmalzahlung von 500 Euro. Schober war einer von vielen, der mit seinem gewerkschaftlichen Einsatz dazu beigetragen hat, den Preisanstieg für Beschäftigte abzufedern. Vertrauensleute dürfen, anders als Betriebsräte, auch Arbeitskämpfe organisieren.

Er selbst fühlt sich finanziell einigermaßen abgesichert, auch jetzt, wo die Lebensmittelpreise steigen und auch wenn noch ungewiss ist, wie teuer das Heizen künftig wird – sein Gasvertrag läuft bis Mitte nächsten Jahres. Er hat finanzielle Puffer und kann noch sparen. Schobers Frau arbeitet Teilzeit, inklusive Kindergeld hat die vierköpfige Familie netto rund 5000 bis 5400 Euro im Monat zur Verfügung. Was Schober nicht versteht: Warum unabhängig vom Einkommen Kindergeld an alle Eltern gezahlt wird.

Finanziell einigermaßen abgesichert zu sein, ist für die meisten Menschen wichtig. Ein Industriejob und Tarifverträge bieten vielen einen gewissen Schutz. Wobei Schober auch von Beschäftigten erzählt, die in jüngster Zeit aus der Gewerkschaft ausgetreten sind, weil sie sich den Mitgliedsbeitrag nicht mehr leisten können.

Insgesamt sind die Gehälter von Erwerbstätigen indes schon im letzten Jahr nach Abzug der Inflation gesunken, auch in der Industrie. Gesamtmetall-Präsident Stefan Wolf findet, Beschäftigte in der Metallindustrie könnten weitere Reallohnverluste verkraften. Schließlich verdienten Pflegekräfte viel weniger. Schober lässt diese Orientierung an niedrigen Gehältern nicht gelten: »Es geht darum, dass die Menschen in der Pflege zu wenig bekommen.«

Zudem gibt es nicht nur Beschäftigte, die mehr oder weniger erhalten, sondern auch noch reiche Vermögensbesitzer, die in Wolfs Vergleich unter den Tisch fallen. »Bei uns fragen die Kollegen: Warum werden nicht alle an den Kosten beteiligt?«, erzählt Schober. »Dass es zum Beispiel immer noch keine Vermögenssteuer gibt, darauf reagieren viele inzwischen allergisch.«

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