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Naturalist, Utopist und Gefühlssozialist

Zum 120. Todestag von Émile Zola werden in Frankreich seine Schriften neu herausgegeben

  • Maurice Schuhmann
  • Lesedauer: 6 Min.
"Portrait d'Émile Zola", Édouard Manet, 1868
"Portrait d'Émile Zola", Édouard Manet, 1868

Der jähe Tod Zolas: rief im ersten Augenblick ein peinliches Gefühl hervor, ein Gefühl der Ohnmacht, die ein an Arbeit und Kampf so reiches Leben einem kläglichen Zufall preisgegeben sah. Aber der Hass der Feinde, der uferlos schäumend über die Leiche des tapferen Mannes hereinbrach, noch ehe sie erkaltet war, gab den sicheren Trost, dass dieser Tote ein ruhmvolles Tagewerk vollbracht hatte. Wer nicht einmal durch die Majestät des Todes die lästernde Zunge bändigen lässt, der ist bis ins Herz getroffen. Je wüster sich der Hass der Besiegten gebärdete, umso heller glänzte das Schwert auf der Bahre des Siegers», schrieb der deutsche Sozialist Franz Mehring in einem Nachruf auf Émile Zola in der «Neuen Zeit». Bei allem pathetischen Überschwang in jener Passage wahrte er dennoch eine kritische Distanz zu Zola. Diese Ambivalenz ihm gegenüber seitens der Vertreter des Sozialismus beruhte auf Gegenseitigkeit.

Am 29. September 1902 verstarb der französische Naturalist Émile Zola im Alter von 62 Jahren. Erst wurde er auf dem Friedhof von Montmartre in Paris beerdigt, sechs Jahre später ins Pantheon überführt und somit als «großer Franzose» in das Bewusstsein der Nation eingeschrieben. Dort liegt er nun in Nachbarschaft zu Philosophen wie Jean-Jacques Rousseau, in dessen Tradition er sich selbst verortete. Bei der Beerdigung, nach zeitgenössischen Berichten ein langer Trauerzug, in den sich viele Arbeiter*innen einreihten, wurde auch immer wieder in Sprechchören «Germinal» skandiert – der Titel seines vielleicht wichtigsten Romans, in welchem er ihre Situation realistisch beschrieben hatte.

Diese Beteiligung vieler Arbeiter*innen an der Prozedur ist beachtlich. Gerade sein früher Roman «Der Totschläger», in dem Zola die Verrohung und die Trunksucht von Arbeitern vor dem Hintergrund der sozialen Frage ungeschönt darstellte, wurde in der Arbeiterbewegung stark kritisiert. Erst mit dem Roman «Germinal», für den er auch vor Ort in einer Bergarbeitersiedlung im Norden Frankreichs recherchierte, konnte er in diesen Kreisen an Sympathie gewinnen. Hierin widmete er sich auch erstmalig der Ideenwelt des zeitgenössischen Sozialismus – ohne Rückgriff auf den Frühsozialismus, den er in späteren Jahren präferierte und literarisch verarbeitete.

Im Gegensatz zu Victor Hugo, mit dem er häufig in einem Atemzug genannt wird, ist seine Sozialismusvorstellung, die besonders in seinem Spätwerk omnipräsent ist, stets recht vage und ambivalent gewesen. Es ist geprägt durch die Ablehnung eines revolutionären Sozialismus, den er zum Beispiel am Beispiel der Pariser Commune als eine Form der Krankheit bzw. des Fiebers geißelt, und andererseits durch eine Hinwendung zu utopischen, frühsozialistischen Tendenzen. Dabei hat er auch die Gründung und Entstehung der I. Internationale reflektiert. In seinem Roman «Germinal» agiert einer seiner Protagonisten, Etienne Lantier, als Vertreter eben dieser Internationalen Arbeiterassoziation und versucht, seine Kolleg*innen zu agitieren und zu organisieren. Als sein Gegenspieler tritt Suwarin als Vertreter eines insurrektionalistischen, an den Ideen Michael Bakunins orientierten Anarchismus auf. In diesem Rahmen diskutiert Zola die beiden damals vorherrschenden Vorstellungen von Klassenkampf und Reformismus, die sich aufseiten der Streikbrecher finden. Obwohl in jenem Roman der Streik erfolglos verläuft und mit einer Niederlage der Arbeiter*innen endet, wurde der nach einem Monat aus dem Kalender der französischen Revolution benannte Roman zu einem Klassiker der Arbeiterliteratur. Trotz der Thematisierung der Niederlage der streikenden Arbeiter ist die Sympathie ganz auf ihrer Seite. Zola positioniert sich klar zu ihnen, auch wenn ihm beide Formen des Klassenkampfes – sei es der marxistische oder der anarchistische Zugang – suspekt erscheinen. In späteren Texten setzt er diesen Tendenzen einen evolutionären Weg zum Sozialismus entgegen, der auf einer oberflächlichen Rezeption frühsozialistischer, vor allem fourieristischer Ideen beruht.

Noch im Jahr 1876 erklärt er allerdings in Bezug auf die Kritiker seines Werkes und deren Angriffe: «Sie schimpfen mich einen ›demokratischen und sozialistisch angehauchten Schriftsteller‹ und wundern sich, daß ich eine bestimmte Kategorie von Arbeitern in düsteren Farben der Wahrheit schildere. Zunächst muß ich mich gegen das Etikett verwahren, das Sie mir auf den Rücken kleben. Ich hege, in aller Kürze gesagt, lediglich die Absicht, ein Romanschriftsteller zu sein, ohne jedes Beiwort.» Die Vorwürfe, auf die er hier antwortet, bezogen sich auf den Roman «Der Totschläger», Teil seines 20-bändigen Familienzyklus «Die Rougon-Macquart», der seinen literarischen Ruhm begründete.

In späteren Jahren, gerade in den Romanzyklen «Drei Städte» und «Vier Evangelien», dokumentierte er nicht nur das soziale Elend und dessen moralische Folgen, sondern beschäftigte sich mit sozialistischen Utopien, die Abhilfe versprachen, beziehungsweise entwarf eigene Ansätze. Besonders die Sozialutopie von Charles Fourier, die er wie auch die anderer utopischer Sozialisten lediglich aus der Sekundärliteratur kannte, inspirierte sein Denken grundlegend. Zwei Aufsätze in der Zeitschrift «Revue des deux Mondes» über diesen vermittelten ihm die Grundlagen. Schon sein Protagonist Sigismond Busch in «Das Geld» war ein Vertreter von Fouriers Theorien. In seinem Roman «Die Arbeit» entfaltet er eine fourieristische Utopie. In jenem, dem Zyklus der «Vier Evangelien» zugehörigen Roman skizziert er Grundzüge eines kollektivistischen Projekts: Abschaffung des Geldes, der Regierung, des Militärs und der Gefängnisse. Hintergrund dessen ist die von Fourier angestrebte universelle Harmonie, die Herrschafts- und Unterdrückungsinstrumentarien überflüssig macht.

Aber auch andere französische Frühsozialisten wie Henri de Saint-Simon, Étienne Cabet oder Pierre-Joseph Proudhon werden von Zola redundant erwähnt. Deren Vorstellungen kannte er allerdings auch lediglich aus Lexikoneinträgen. Es war Teil seiner Recherchen, die er stets akribisch für seine Werke betrieb – ohne jeweils die Originaltexte zu rezipieren.

Besser war er hingegen mit dem Konzept des Anarchismus vertraut. So ist zum Beispiel die Lektüre von Peter Kropotkins «Eroberung des Brotes» belegt, was durch die Darstellungen der Positionen seines Protagonisten in «Paris» vertieft wird. Dennoch ist bei Zola die Darstellung des Anarchismus verbunden mit Zerstörung und Tod. Obwohl er Kropotkin und auch Jean Grave («Die zukünftige Gesellschaft») im Original gelesen hatte, ist sein Bild vom damals vorherrschenden Attentatismus jener Epoche geprägt. Bereits in «Germinal» wird die Verbindung gezogen, wenn Suawin – ganz im Sinne des Deutschen Johann Most – bezüglich des Klassenkampfes postuliert: «Mit Feuer, Gift und Dolch. Der Räuber ist der wahre Held, der Rächer des Volkes, der Revolutionär der Tat, der keine leeren, aus Büchern zusammengelesenen Phrasen drischt.» Im Zuge seines Romans «Paris», dem Abschluss der Trilogie «Drei Städte», thematisiert Zola den Prozess gegen einen anarchistischen Attentäter.

Den zeitgenössischen Sozialismus, wie ihn etwa ein Jean Jaures oder Jules Guesde vertrat, rezipierte er hingegen kaum. Es ist verwunderlich, dass er diese Entwicklung nicht verfolgte. Seine Romane entstehen zeitgleich zum Aufstieg der sozialistischen Parteien in Frankreich. Im selben Jahr wie sein «Germinal» erschien das von Paul Lafargue und Jules Guesde verfasste Parteiprogramm der französischen Sozialist*innen. Karl Marx allerdings, der zu jenem Zeitpunkt unbestreitbar eine der wichtigsten Personen innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung gewesen ist, hat keine wahrnehmbaren Spuren in Zolas Werk gefunden.

Vor diesem Hintergrund muss man den Sozialismus von Zola als einen Gefühlssozialismus oder «Sozialismus des Herzens» bezeichnen. Dieser ist nicht auf einer akademischen Auseinandersetzung mit Theorien gewachsen, sondern beruht auf eigenen Erfahrungen und Recherchen für seine sozialkritischen Werke. Auch wenn oder gerade weil er nicht den theoretischen Kanon verinnerlicht hatte, ist die Lektüre des umfangreichen, partiell unvollendet gebliebenen Werkes von Émile Zola noch heute von großem Interesse.

In Frankreich erschienen zum 120. Todestag von Émile Zola Neuausgaben seiner Schriften, darunter «Lettre à la jeunesse» und «J’accuse» (je 3,99 €), sowie eine Biografie von Edmond Lepelletier (20,30 €).

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