- Gesund leben
- US-Abtreibungsrecht
Frauenhaus im Grenzland
Gerade in ländlichen Regionen der USA sind Schwangerschaftsabbrüche ein großes Problem
In einer Kleinstadt hängt manchmal viel davon ab, ob die Möglichkeit einer Busfahrt in die Außenwelt vorhanden ist oder nicht. Etwa wenn eine Frau Opfer sexueller Gewalt geworden ist und dringend zum Facharzt muss, aber kein eigenes Auto hat. Oder wenn sie sich für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden hat und auf kostenlose Fürsorge in einer Großstadtklinik angewiesen ist. In Hays City, Kansas gibt es eine solche Busreise nicht mehr. In dieser Stadt im Nordwesten des Bundesstaates ist eine Frau ohne Auto nur von endlosen Getreidefeldern, den letzten Resten der Prärie, umzingelt.
Früher ging man zu einer bestimmten Tankstelle in der Vine Street und kaufte dort ein Greyhound-Busticket. Es gab auf dem Land keinen strikten Stundenplan, man wusste nur eine ungefähre Ankunftszeit. Aber so konnte auch jeder über den Highway I-70 nach Denver oder Wichita gelangen. Die typische Frau, die in den USA einen Schwangerschaftsabbruch sucht, ist Ende 20, bereits Mutter und kann noch ein Kind nicht versorgen. Der Greyhound-Bus fährt immer noch einmal am Tag den Highway entlang, aber in Hays City hält er nicht mehr. Die Weiten des Landes sind manchen zum unüberwindbaren Raum geworden.
Hays ist eine ordentliche Stadt, in strengen Quadraten angelegt. Jedes Haus und jeder Vorhof ist aufgeräumt. Als die Stadt 1867 zum westlichsten Punkt der Union-Pacific-Eisenbahn wurde, war sie eine Transport-Drehscheibe. Die Eisenbahnarbeiter und Soldaten von Fort Hays machten sie zur wildesten Stadt des Westens: Bars und Bordelle, Sheriffs und Gunfighter. Das Wort Rotlichtviertel soll dort erfunden worden sein – wegen der aufgehängten roten Laternen der Eisenbahner vor den Türen der Prostituierten. Doch der Endpunkt der Eisenbahn wanderte weiter nach Westen. Nun kamen die Wolgadeutschen und die Mennoniten, Bauern mit Familienhöfen, Kirchen und Ordnungsliebe. Ein Wertewandel, den man heute noch spürt.
Letztes Jahr entschied sich der örtliche Tankstellen-Betreiber, keine Bustickets mehr zu verkaufen. Das wartende Publikum war immer zahlreicher und auch schäbiger geworden – solche Menschen wollte man in Hays nicht mehr. Seitdem kommen unmotorisierte Bürger nur noch weg, wenn sie mit dem United-Flugzeug fliegen können.
An einem Septembernachmittag wartet im kleinen Flughafen eine Mennoniten-Familie: Die Mutter mit archaischer weißer Haube, neben ihr die erwachsene Tochter und ihr kleiner Sohn; der Vater trägt einen Bart im Amisch-Stil. Sie reisen zu einer Hochzeit in Chicago. Auf das Nesthäkchen schaut das Paar liebevoll: Für den Kleinen ist die Reise ein Abenteuer.
Nicht jede Kleinstadt von 20 000 Seelen wie Hays hat ein Frauenhaus. In Hays heißt es »Options«. Es wurde in den 1970ern von einer Frauengruppe gegründet und ist heute auf einer Fläche von 55 000 Quadratkilometern das einzige in der Region, die wegen der geringen Bevölkerungsdichte immer noch als Grenzland gilt. Die »Options«-Arbeit fängt daher oft mit dem Abholen einer Klientin mit dem Auto an. Wie bei Macie in diesem Juli. Mit ihren zwei Söhnen wurde die Frau aus Wichita von ihrem gewalttätigen Partner nachts in den Straßen von Garden City einfach ausgesetzt; bei sich hatte sie nichts, weder Geld noch Ausweis. Im dortigen Frauenhaus gab es keine Betten. Wenig später fuhr eine »Options«-Angestellte 220 Kilometer mit dem Auto und holte die Kleinfamilie ab.
Macie, eine Afroamerikanerin Ende 30, sprach acht Wochen später mit »nd«. Sie sitzt am Ende eines Sofas in einem Wohnzimmer im Souterrain der unscheinbaren »Options«-Herberge und trägt kess ein altmodisches rot-weißes Tuch um den Kopf gewickelt; einige Habseligkeiten und Kissen sind wie eine Festung um sie gestapelt. Bedächtig bewegt sie ihre kleinen, zierlichen Hände.
Sie sei ein stilles Kind gewesen, erzählt sie. Ihre ganze Sicherheit war ihre Mutter, die aber vor zwei Jahren mit Anfang 60 im Krankenhaus starb. Macie verzweifelte, wurde »leichtsinnig«. Ihr neuer Partner misshandelte sie. Als medizinische Assistentin ausgebildet, leidet sie chronisch an Thrombosen. Jetzt warte sie ungeduldig auf neue Ausweise, die sie für eine subventionierte Gesundheitsversicherung benötigt. Macies seltsames Lager auf dem Sofa zeugt von einem Trauma, weshalb sie das Gemeinschaftswohnzimmer auch so in Besitz nehmen darf. Wie alle Frauen darf sie so lange bei »Options« bleiben, wie sie es nötig hat.
Die Geschäftsführerin der Frauen-Organisation, Jennifer Hecker, hat hier ein Sicherheitsnetz aufgebaut, jenseits von bloßer Wohltätigkeit. Die Mittfünfzigerin trägt ihre Haare jugendlich lang; morgens auf dem Weg zur Arbeit dreht sie die Musik im Auto extrem laut auf: »Ich brauche das, um die Leiden unserer Klientinnen zu verkraften«, sagt sie.
Jeden Tag sterben in den USA drei Frauen durch häusliche Gewalt. Die Überlebenden stehen oft vor endlosen Problemen, und »Options« muss für den Staat in die Bresche springen. Das Frauenhaus ist rund um die Uhr telefonisch erreichbar, Gewaltopfer bekommen so schnelle Hilfe. Das hänge aber vor allem auch von einer einzigen engagierten Krankenschwester im Provinzkrankenhaus ab, sagt Hecker. Meist weigerten sich die Krankenhäuser, diese Kosten zu schultern. Andere Frauenhäuser in Kansas haben aufgehört, Mitfahrgelegenheiten anzubieten, da der Taxidienst die knappen, auch finanziellen Ressourcen schlucke.
Ein weiterer Anruf: Eine Sexarbeiterin aus Nevada braucht Hilfe, um ihren Peinigern zu entkommen. Sie muss aus Nevada geholt werden und will dann rasch nach Oklahoma. Einst, in den Tagen der Westernheld*innen Wild Bill Hicock und Calamity Jane, fungierten die Hays-Prostituierten als Stadträte, ihre Strafgelder bezahlten das Sheriff-Gehalt. Heute will man solche Frauen nicht mehr in der Stadt.
Die Mitarbeiter*innen bei »Options« sind da genau der Gegenpol. Anniston Weber hat vor zwei Jahren die Black-Lives-Matter-Proteste in Hays organisiert; Isaiah Conway und Dan Arras arbeiten bei »Options« in einem ungewöhnlichen Einsatz als männliche Sozialarbeiter im Frauenhaus. Finanziert wird das Projekt mit fast 1,5 Millionen Dollar im Jahr, davon kommen rund 85 Prozent aus der öffentlichen Hand und der Rest aus Privatspenden. Doch zurzeit verringern sich die Gelder aus beiden Quellen eher, während die Kosten unaufhörlich steigen.
Über mögliche Abtreibungen der Klientinnen, die sie nach Denver oder Wichita fährt, schweigt Hecker. Gerade wurde das Abtreibungsrecht von den Wählern in Kansas bestätigt. Auch im stark katholischen Hays hat fast die Hälfte der Wähler für die Beibehaltung des liberalen Rechts gestimmt, obwohl die katholische Kirche die Verbots-Kampagne mit vier Millionen Dollar unterstützte. Vor dem Referendum hatte Hecker einem nationalen Radiosender gesagt, dass sie ihre Fahrdienste weiter leisten würde, egal wie die Abstimmung ausgehe. Jetzt bleibt aber die soziale Frage: Je strenger die Abtreibungsverbote anderswo werden, desto mehr werden die Kliniken in Kansas beansprucht. Nun droht Texas, die Bürger anderer Bundesstaaten zu belangen, wenn sie Texanerinnen Hilfe zur Abtreibung leisten.
Hecker wurde in Texas katholisch erzogen. Sie erinnert sich an eine Tante, die plötzlich bei ihren Eltern wohnte, obwohl sie gerade noch Hochzeit gefeiert hatte. Heckers Vater erklärte ihr damals, dass sich die Tante die Misshandlung durch den neuen Ehemann nicht gefallen lassen müsse. Heckers Mutter war immer Abtreibungsgegnerin, auch jetzt duldet sie keinerlei Ausnahme, nicht mal bei Vergewaltigung oder Inzest. Wenn Hecker Texas besucht, fährt sie ihre Mutter immer noch zur Kirche. Doch sie selbst wartet lieber auf dem Parkplatz, bis der Gottesdienst vorbei ist.
Das Frauenhaus platzt aus allen Nähten, im benachbarten Bungalow können maximal 22 Personen wohnen. Trotz der Enge kommen manche Frauen immer wieder. Das hat sich gebessert, seit eine »Options«-Mitarbeiterin sich gezielt um den Übergang in den Alltag kümmert. Macie erzählt auf dem abgewetzten Sofa, dass sie eigentlich ins Krankenhaus müsste. Sie will aber ihre Söhne nicht allein lassen. Auch ist sie besorgt, weil ihre Söhne fast die einzigen Afroamerikaner in der neuen Schule sind.
Jennifer Hecker beugt sich über den Grundriss eines möglichen neuen Gebäudes für »Options«, das Angebot für 4,5 Millionen Dollar kam gerade rein. Damit gäbe es Raum genug für den Bedarf der gesamten Region. Therapieräume, sichere Eingänge sowie ein separater Raum für die Desinfektion, wo man diskret das Mitgebrachte von Parasiten befreien könne, ohne dass die Frauen die Reinigung ihrer Sachen bemerken.
Hecker plant für den Neubau eine Kampagne im großen Stil, um Geld zu beschaffen. Ihre Klientinnen durchleben eine Achterbahnfahrt von Liebe und Hass, Kinderfreude und Krankheit. »Options« will ihnen Rechte auf ein besseres Leben sichern. Hays City erlebte schon einige epische Wertewandel. Vielleicht ist dies der Anfang eines neuen, sozialeren Miteinanders.
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