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Gold, das nicht glänzt
Ulrich Seidls Film »Sparta« hat eine Debatte über den Umgang mit Kindern am Set ausgelöst. Nun kommt sein sanftmütiges Porträt eines abgehalfterten Schlagersängers »Rimini« in die Kinos
»Das deutsche Wochenmagazin DER SPIEGEL hat in seiner jüngsten Ausgabe schwere Vorwürfe gegen mich, meine Arbeitsweise und meinen Spielfilm SPARTA veröffentlicht.« So beginnt eine Stellungnahme des österreichischen Filmemachers Ulrich Seidl. Anfang September sorgte ein Artikel unter dem aufmerksamkeitsheischenden Titel »Nur noch ein bisschen, dann darfst du nach Hause gehen« für Aufregung, der Seidl eine missbräuchliche Drehpraxis unterstellt. Der erwiderte nun, seine Arbeitsweise werde diffamiert.
Doch worin genau besteht das Problem? In »Sparta« geht es unter anderem um die pädophilen Neigungen des Protagonisten Ewald – pädophile Handlungen sind nicht Gegenstand des Films. Die Dreharbeiten fanden in Rumänien statt, wo eine Reihe von Kinderdarstellern beteiligt war. Vier »Spiegel«-Journalisten, die sich laut Seidl das Drehbuch nicht haben schicken lassen, den Film zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht gesehen hatten, begaben sich auf Indiziensuche. Der Umgang mit den minderjährigen Darstellern wird scharf angeprangert. Und tatsächlich lesen sich einige der geschilderten Szenen vom Dreh erschreckend.
Doch der Beitrag ist nicht um Klärung, sondern nur um Skandalisierung bemüht. Eindrücke ergäben sich, es scheint, es habe auch dieses oder jenes sich ereignet, heißt es. Die eingestellten Ermittlungen der rumänischen Polizei gereichen nicht etwa zur Entlastung, sondern sollen nur als ein weiteres Puzzleteil das Bild komplettieren, nach dem hier etwas nicht mit rechten Dingen zugehe.
Der Artikel endet mit der Aussage des Vaters eines der beteiligten Darsteller: »Es wäre nicht schlimm gewesen, hätten unsere Kinder einfach in einem schönen, friedlichen Film mitgespielt. Aber Pädophilie! Gott bewahre!« Und hiermit ist man der Wahrheit wohl eher auf der Spur: Schon der Umstand, Kinder in einem Film über einen Mann mit pädophilen Neigungen mitspielen zu lassen, verlangt einem einiges ab. Und wer würde schon gern das eigene Kind auf der Leinwand sehen, wenn der Skandalfilmemacher Ulrich Seidl Regie führt? Nur sollte man fairerweise den Gegenstand des Films und die Bedingungen seiner Entstehung voneinander trennen.
Ob im juristischen Sinn Grenzen überschritten wurden, können nur Gerichte entscheiden. Viele Medien stimmen dennoch schon mal ein in den vom »Spiegel« angeführten Chor. In einem Kommentar in der Wochenzeitung »Die Zeit« geht dessen Autor noch einen Schritt weiter: Er wertet auch alle bisherigen Filme Seidls künstlerisch ab. Die schöne Seele, die diesen Text verfasst hat, glaubt, nur aus Filmen, die eine Opferperspektive einnehmen, Neues erfahren zu können. Und somit sei der Filmemacher schon immer auf dem falschen Weg. Von großer Kunst bleibe bei genauer Betrachtung nicht viel übrig.
»Sparta«, in dem Georg Friedrich den Protagonisten Ewald mimt, wurde aufgrund der Vorwürfe nicht wie geplant beim Toronto International Film Festival im vergangenen Monat uraufgeführt, allerdings mittlerweile im Rahmen des Filmfestivals von San Sebastían gezeigt. In dieser Woche wird zunächst »Rimini« einem breiten Publikum im Kino präsentiert, der mit »Sparta« zunächst als ein Film geplant war.
Ewald tritt auch in »Rimini« auf. Er ist der Bruder der Hauptfigur Richie Bravo (Michael Thomas), eines Schlagersängers, dessen beste Zeit bereits vorüber ist. Wir verfolgen auf der Leindwand kein überkomplexes Handlungsgefüge, das sich zu einer Geschichte verdichtet. Wie bei Seidl üblich sind es einzelne Szenen und Bilder, die tiefe Einblicke gewähren. Das Brüderpaar bei der Beerdigung der Mutter. Der greise Vater der beiden, dem die Orientierung für die Alltagsbewältigung abhandengekommen ist. Richie Bravo auf dem Weg zurück nach Italien, in sein Leben von verblasstem Glanz.
Richies renovierungsbedürftiges Haus in Rimini wirkt wie eine melancholische Reminiszenz an bessere Tage. Heute singt er vor gealterten Italienreisenden aus dem deutschsprachigen Raum in billigen Bars oder billigen Hotels. Der Fankreis ist stark dezimiert. Und auch der Alkohol frisst an dem Alleinunterhalter. Der Barde hat sich eingerichtet im fortschreitenden Abstieg – zwischen seinen primitiv überhöhten Liedern von der Amore und dreckigem Sex, für den er sich von seinen Gespielinnen bezahlen lässt. Doch dann taucht Tessa auf (Tessa Göttlicher) – Richies Tochter, die Unterhaltsansprüche geltend machen will.
Wenn Richie Bravo seinen fetten Bauch versteckt, sich betrunken in seinen Goldanzug wirft und die Bühne betritt, dann bringen wir nicht mehr die Kraft auf, diesen unsympathischen Mann zu verabscheuen. Es ist das Prinzip Seidl, mit der Kamera gnadenlos draufzuhalten auf die Erniedrigten und Beleidigten unserer Zeit, die er nie zu Unschuldigen verklärt, aber so immer auch als menschliche Wesen, als Opfer der Verhältnisse und als Opfer ihrer selbst erkennbar macht.
Ulrich Seidl ist niemand, der Anklage erhebt, keiner, der sich mit moralischem Fingerzeig seinen Figuren zuwendet. Der Mann ist ein künstlerischer Ethnograf, kein Sozialpädagoge. In den unkommentierten und unbewerteten Bildern findet man den Zugang zum Abgründigen. Ist das versöhnlicher Kitsch? Nein, im Gegenteil – das ist die Trostlosigkeit der Realität.
In »Rimini« begegnen uns viele Themen, die wir von Seidl kennen: Prostitution, Einsamkeit, das kaum erfüllbare Streben nach Besserem und die schuldhafte NS-Vergangenheit, mit der uns Richies und Ewalds Vater konfrontiert. Wer den Filmemacher kennt, wundert sich vielleicht darüber, dass die großen Schockmomente in »Rimini« ausbleiben, die überfordernden Bilder, die noch Wochen später immer wieder vor dem Auge des Zuschauers auftauchen. Es ist ein sanftmütiges Werk – und das Filmende hält dann doch fast so etwas wie eine Versöhnung bereit, wenn auch nicht ohne doppelten Boden.
»Immer schon versuche ich in meiner Arbeit, das Widersprüchliche in unserem Handeln und Denken als Essenz des Menschseins zu ergründen. Mir ist bewusst, dass meine künstlerische Weltsicht, und wie ich sie in meinen Filmen ausdrücke, nicht zuletzt in krassem Gegensatz steht zu einem gegenwärtigen Zeitgeist, der ein verkürztes, vielfach kontextloses ›Entweder–Oder‹ verlangt, wo ein ›Sowohl–Als auch‹ die menschliche Erfahrung deutlich besser beschreibt«, heißt es in Seidls erwähnter Stellungnahme.
Das ist ein Satz, der die erhobenen Vorwürfe nicht allein aus dem Weg räumen kann. Aber er macht den programmatischen Anspruch eines Künstlers deutlich, der sich nicht in dumpfer Publikumsbespaßung ergeht, sondern eine Konfrontation mit der Realität abverlangt. Ein Anspruch, dem auch »Rimini« gerecht wird.
»Rimini«: Österreich/Frankreich/Deutschland 2022. Regie: Ulrich Seidl; Buch: Ulrich Seidl, Veronika Franz. Mit: Michael Thomas, Hans-Michael Rehberg, Tessa Göttlicher, Inge Maux, Claudia Martini, Georg Friedrich. 116 Min. Start: 6.10.
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